Die Möglichkeit einer Insel – Ist das „geistigste aller deutschen Seebäder“ bedroht?

Von Pascal Mathéus

Nicht erst seit Lutz Seilers fabelhaftem Roman ‚Kruso‘ ist Hiddensee ein literarischer Sehnsuchtsort. Etliche Schriftsteller, aber auch Maler, Schauspieler und andere Künstler fühlten sich von der Weltabgeschiedenheit, der Landschaft und dem Meer angezogen. Viele von ihnen haben der Insel ein Denkmal errichtet, haben ihre Schönheit besungen oder auf die Leinwand zu bannen versucht. Was ist es aber genau, was die Leute auf der Insel suchen? Und droht es wirklich zu verschwinden? 

Mitten in Vitte, dem Hauptort von Hiddensee, steht an einer Straßenecke ein verfallenes Gebäude mit einem auffälligen Türmchen. Der 1886 gebaute und nach und nach zum Hotel erweiterte Gasthof Zur Ostsee war bis 1990 ein Ferienheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Seit Mitte der 90er Jahre stand der Bau bis auf einen Fahrradladen im Erdgeschoss leer. Jetzt soll er endlich wieder in Stand gesetzt werden.

Die Fassade des ehemaligen Hotels „Zur Ostsee“ mit der Hauptmann-Gedenktafel / Foto: Pascal Mathéus

In besseren Zeiten beherbergte das Haus eine Reihe von berühmten Persönlichkeiten des Kunst- und Kulturlebens. Zu seinen Gästen zählten der Maler Felix Krause, der Illustrator Edmund Edel und die Theaterkritiker Herbert Jhering und Alfred Kerr. An die Aufenthalte des bekanntesten Besuchers erinnert eine Gedenktafel, die in die Fassade des Gebäudes eingelassen ist. Von 1896 bis 1899 verbrachte der Dichter Gerhart Hauptmann seine Sommerferien in dem Gasthof. 

Im letzten Jahr ist jedoch eine weitere Inschrift hinzugekommen, die auf den Literatur-Nobelpreisträger Bezug nimmt. „Hauptmann oder Ballermann – Quo vadis Hiddensee?“, ist über die Gedenktafel gesprayt worden. Die Urheber dieser Inschrift äußern damit ihren Unmut über das Mecklenburg-Vorpommersche Landeserntedankfest, das 2019 auf Hiddensee gefeiert wurde. Statt Malern und Literaten kamen zu diesem Anlass Jürgen Drews, Kerstin Ott, Sarah Lombardi und Detlev Soost auf die Insel, was bei vielen Hiddenseefreunden nicht eben Begeisterung hervorrief. Und in der Tat eignet sich Hauptmann auf den ersten Blick ganz hervorragend als Gewährsmann für die vorgebrachte Klage. Denn der Dichter fürchtete schon früh, dass es mit der Ruhe, für die er die Insel schätzte, eines Tages vorbei sein könnte. Am Ende des 19. Jahrhunderts war dies allerdings noch nicht mehr als eine Befürchtung. 

Solche schöne Ruh!

„Da is das hier doch was anders. Für die Herrn Künstler und Jelehrten is Hiddensöe doch allemal das richtige Flach. Solche schöne Ruh! Und das Übersichtliche so allens in allen! ’ne feine Luft hier, sagen die Malers ja doch!“ So lässt sich ein einheimischer Kellner namens Magnus in Clara von Sydows 1912 erschienenen, aber um 1900 spielenden Roman Einsamkeiten über die Insel vernehmen.  

Die Künstler, die die Insel in diesen frühen Jahren besuchten, fanden auf Hiddensee einen vollständigen Kontrast zur nervösen, gründerzeitlichen Großstadtwelt, aus der die meisten von ihnen stammten. Bei Gerhart Hauptmann hört sich das 1896 so an: „Diese Eindrücke zwingen die Seele zur Einfachheit. Alles Gekünstelte, alles Städtisch-kulturell-aufgedrängte fällt von ihr ab. Das ist das Gesuchte, das ist das Gesunde.“ Hiddensee wird von Hauptmann gleichsam zur Gegenwelt stilisiert, die sich scharf von der als feindlich und krank empfundenen modernen Großstadt abhebt. Wenn es nach Hauptmann gegangen wäre, hätte die Insel ein aus der Zeit gefallenes Geheimnis bleiben sollen. In einem Brief an den Theaterkritiker Otto Brahm beschwor er seinen Korrespondenzpartner: „stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde“. Und in seinem in den Jahren 1905/6 entstandenen Drama Gabriel Schillings Flucht lässt Gerhart Hauptmann seine Befürchtung durch den Mund einer seiner Figuren folgendermaßen ausdrücken: „Es wäre gar nicht gut, wenn die Insel bekannt würde; dann käme erstmal das ganze Großstadtgewimmel darüber hereingebrochen, dann wär’s mit ihrer Schönheit wohl aus.“ 

Hiddensee ist in Mode gekommen

Ja, die Klage über die Überfüllung der Insel ist beinahe ebenso alt wie der Hiddensee-Tourismus selbst. Bereits 1910 klagt in Adolf Wilbrandts Roman Hiddensee eine seiner Figuren: „Hiddensee ist ja eine Modesache geworden; wie wurden wir diesen Sommer schon mit ‚Leuten‘, mit Sport- und Weltmenschen überschwemmt. Übers Jahr werden mehr kommen, und immer mehr! Und sie werden Hiddensee solange modernisieren und ruinieren, bis wir weiter ziehen!“ 

In der Tat stiegen die Besucherzahlen seit Anfang des Jahrhunderts beträchtlich an. Von 1900 bis 1914 wuchsen die Übernachtungszahlen um das Dreifache, wie sich in Manfred Fausts sehr lesenswertem Buch Hiddensee – Die Geschichte einer Insel nachlesen lässt. In diesen Jahren entstanden auch etwa in Kloster die meisten der heute existierenden größeren Hotel- und Pensionsanlagen wie das Hotel Hitthim, das Hotel zum Dornbusch, das Haus am Meer, das Wieseneck und das Bergwaldhotel zum Klausner

Wem gehört die Insel? 

Einer der Charaktere in Wilbrandts Roman ersinnt einen Plan gegen diese Entwicklung. Um sich ihr entgegenzustellen, regt der alternde Schauspieler Wolf Schellenberg die Gründung von „Neuhiddensee“ an. Es handelt sich dabei um einen Verbund von Hausbesitzern auf der Insel, die durch ihre gemeinsame Einstellung und ihre Ziele geeint sein sollten. Schellenberg spricht von einer gemeinsamen „Sehnsucht“, die „aus der Alltäglichkeit und Allnichtigkeit heraus“ strebt, „heraus aus dem Tandelmarkt, wo die Mode ihren Tamtam schlägt und das Geld der Gott ist. Hinein in das Land der Wahrheit und Freiheit, der großen Gedanken und der emporstrebenden Gefühle!“ Die im Vergleich mit Hauptmann ähnlich gelagerten Ressentiments gegen die moderne Großstadtwelt sind evident. Schellenberg wünscht sich von seinen Anhängern, dass sie sich auf der Insel „zusammenfinden, für kurz oder lang, aus der ‚Welt‘, aus dem Gewühl heraus, in einem kleinen Paradies, das sich Hiddensee nennt. Und daß wir uns hier, in dieser reinen Luft, auf unsrer Insel, aneinander stärken!“

Wenngleich man auch als heutiger Besucher der Insel den Reiz der Weltabgeschiedenheit und Langsamkeit nachvollziehen kann, wenn man von Strand und Steilküste, Wind, Wellen und Meer begeistert ist, kann einen die Vehemenz von Hauptmanns und Wilbrandts Verachtung für alles Moderne und die gleichzeitige Verklärung der Insel als ursprüngliches und heilgebliebenes Eiland irritieren. Es ist ebenfalls auffällig, wie sich bei beiden rasch ein Besitzanspruch artikuliert, der sich bei Hauptmann in der Form des Verschweigens ihrer Existenz und bei Wilbrandt in seiner Rede von „unsrer Insel“ ausdrückt. 

Der Leuchtturm auf dem Bakenberg / Foto: Britta Mathéus

Bei beiden ist auffälligerweise dieselbe Idee zu entdecken, wonach die Insel lediglich einer bestimmten Sorte Menschen zugänglich sein sollte – und davon auch nicht zu vielen. Hinzu kommt der strenge Gegensatz zwischen dem ‚gesunden Hiddensee‘ und der ‚kranken‘ restlichen Welt, der die Insel nicht nur hoffnungslos idealisiert, sondern auch Assoziationen weckt zu jenen Gedankengebäuden, die mit ihrem Antimodernismus und ihrer mythifizierenden Deutschtümelei bald Deutschland und ganz Europa ins Unglück stürzen sollten. Nicht von ungefähr tritt bei Wilbrandt denn auch ein junger, blonder Vorzeigemensch auf, der die Ideen Schellenbergs in Zusammenhang mit seiner Nietzsche-Lektüre bringt und dem es beim Anblick des Meeres entfährt: „Dies wäre eigentlich eine Insel für Nietzsche-Menschen! […] So recht meerumschlungen und vom Himmel umringt, so frei! Reine Luft! – Da oben, wo die Insel am höchsten ist, könnte man einen Nietzsche-Tempel bauen. […] Das wäre das wahre Hiddensee!“

Jener Ottokar ist es dann allerdings auch, der dem Buch von Wilbrandt seine tragische Wendung bringt. Ganz eindeutig ist er also als Negativfigur gestaltet, die die Ideen Schellenbergs eben nicht richtig versteht. In Hauptmanns Drama Gabriel Schillings Flucht dagegen kommt die Katastrophe durch eine jüdische Figur auf die Insel, was die Vorbehalte gegen seine Vorstellung von einer reinen, gesunden Inselwelt noch verschärft. Dass die paradiesischen Zustände auf Hiddensee jedoch in jedem Fall eine Fiktion waren, haben andere Zeitgenossen, die den Hiddenseern wohl zugewandter waren als die meisten der lieber unter sich bleibenden Künstler, deutlich gesehen.

Der Einsiedler von Hiddensee

In diesem Zusammenhang muss von Alexander Ettenburg, dem legendären „Einsiedler von Hiddensee“, die Rede sein. Diesem aus Schlesien stammenden Vortragsreisenden und Gastwirt verdankt die Insel einen Gutteil ihrer touristischen Erschließung. Und angesichts der immer weniger einträglichen Fischerei war diese Entwicklung auch bitter nötig. Ettenburg warb in Vorträgen für die Insel, schrieb 1905 den ersten Hiddensee-Reiseführer, eröffnete in Grieben die Schwedische Bauernschenke und im Hochland die Bergwaldschenke Tannhausen. Hinzu kamen die von ihm veranstalteten Freilufttheateraufführungen auf einer Bühne in der nahe am Bergwald gelegenen Swantewitschlucht. Hier ließ er Goethes Iphigenie auf Tauris und seine eigenen, pathetischen Versdramen aufführen. In letzteren ließ er auch schon einmal wenig verschleierte Lob- und Preislieder auf die eigene Person singen, wie in diesem Auszug aus seinem „Allegorischen Märchenspiel“ Hidde, die Fee des „söten Lannekens“:

Ein treu’ Gedenken nicht vergeht
An den „Einsiedler von Hiddensee“,

Sein Liebewalten auf luftiger Höh.
Hast dann ein menschenwert Ziel erstrebt,

Dir selbst, und Vielen zum Heile gelebt.
Und wenn du einst schläfst im Dünensand
Den letzten Schlummer, und allbekannt
Geworden ist unser Eiland weit –
Dann komm ich zu dir im weissen Kleid
Und schmücke dein Grab in Vollmondnacht
Mit dem einzigen Zauber von Hiddensee
Du einsamer Schläfer auf waldiger Höh –

Ettenburg war wohl in der Tat ein wenig wunderlich. Der mit ihm bekannte Schriftsteller Arved Jürgensohn erinnert sich in seinem Buch Hiddensee – Das Capri von Pommern (1924) im Zusammenhang mit dem Streit um den Pachtvertrag für das Gelände seiner Bergwaldschänke (der Einsiedler musste Tannhausen aufgeben, weil das Grundstück an Emil Hirsekorn, den Begründer des Klausners, verpachtet wurde) „seines mitunter kriegerischen Temperaments“. Ettenburg selbst berichtet in seinem erwähnten Reiseführer Die Insel Hiddensee bei Rügen – das Ostseebad der Zukunft von Zeitungsartikeln, in denen er als „Original vom Ostseestrande“ oder „[v]erschmitzter Klosterbruder“ bezeichnet wurde. 

Doch trotz seines Hangs zur Dramatisierung der Ereignisse um die eigene Person und des gelegentlich wenig verhüllten Selbstlobs lässt sich nicht leugnen, dass sich Ettenburg um das Wohl der Insel verdient gemacht hat. Er verschaffte vielen Insulanern ein neues Auskommen durch seine Bemühungen um den Tourismus und ermöglichte dadurch gleichzeitig etlichen Reisenden den Besuch der Insel. 

Gerhart Hauptmann gedachte Ettenburgs 1935 in seiner Rede anlässlich seines 50. Jubiläums auf der Insel, in der er auch das Wort von Hiddensee als „das geistigste aller deutschen Seebäder“ geprägt hatte. Er klagte damals: „und der arme einstige Einsiedler von Hiddensee, Alexander Eddenburg, wenn er lebte und es ihm wirklich um Einsiedlertum zu tun wäre, würde sich einen anderen Ort aussuchen müssen.“ 

Die Insel ist groß genug 

Ganz sicher hat Hauptmann damals nicht im Sinne Ettenburgs gesprochen. Dieser äußerte sich bereits 1905 in der ersten Auflage seines Reiseführers begeistert über die steigenden Besucherzahlen: „Viele, sehr Viele sogar kommen wieder und führen neuen ‚Zuzug‘ mit, oder senden Freunde und Bekannte zu uns!“ Damit dieser Zustrom nicht abebbte, trommelte der Einsiedler munter weiter. 

Ein ganz anderes Bild von der Entwicklung auf Hiddensee hat denn auch Arved Jürgensohn in einem Beitrag für ein 1924 erschienenes Heimatbuch (neu abgedruckt in Renate Seydels Hiddensee – Geschichte von Land und Leuten, 2000) gezeichnet. Er beschrieb in dem Text Hiddensees Wachstum an Schönheit und Größe die durch Anpflanzungen gestiegene Artenvielfalt der Hiddenseer Flora und äußerte sich auch positiv über die meisten der vor allem in Kloster hinzugekommenen Bauten. So klingt Jürgensohn ganz anders als die modernefeindlichen Autoren Wilbrandt und Hauptmann: „Wir müssen uns nur frei machen von der herkömmlichen Gewohnheit, bloß das, was alt und für unsere Zeit rührend-dürftig erscheint, reizvoll und malerisch zu finden.“

Auch für den Zustrom an Badegästen hatte Jürgensohn Verständnis. „Daß die Entwicklung der Badeorte einen großen Menschenstrom heranzieht, muß man seinen Mitmenschen gönnen, die auch das Schöne genießen möchten.“ Und wenn auch einmal eine Woche ein Schlagerfest gefeiert wird, hätte Jürgensohn daraus wohl auch keine Schicksalsfrage gemacht, denn: „Hiddensee ist 17 Kilometer lang, 16 Quadratkilometer groß und hat viel Platz.“

Die Gedenktafel und das Graffito im Detail

Schließlich gibt es Anzeichen dafür, dass auch Hauptmann die Schwierigkeiten bei einem allzu dualistisch gedachten Verhältnis zwischen Großstadtgewimmel und Weltflucht gesehen hat. Bezeichnenderweise gelingt nämlich Gabriel Schilling die Flucht im Drama nicht. Auch auf der Insel, – die eben kein der restlichen Welt enthobener Ort ist –, holen ihn seine Probleme und der Verdruss wieder ein. So tritt er letzten Endes die ultimative Flucht an und ertrinkt in der Ostsee. 

Mindestens der gealterte Hauptmann scheint seinen Frieden mit der Entwicklung gemacht zu haben. In der Rede zu seinem 50-jährigen Hiddenseejubiläum spricht er ohne Bitterkeit von den „vielen Menschen“, denen Hiddensee „im Laufe dieser verflossenen fünfzig Jahre Gesundung, Verjüngung und Freude gebracht hat“. Und er fügt an: „Möchte das so allgemein geliebte Eiland die Unbefangenheit seines eigenen Herzens bewahren und allen Liebenden die gleiche Liebe fernerhin entgegenbringen.“

Foto: Britta Mathéus

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