Interview: Gejagt von seinen eigenen Bildern

Von Pascal Mathéus

Ein Gespräch mit Jan Süselbeck über die Zwänge und Schwächen von Günter Grass

Günter Grass ist nun schon seit fünf Jahren tot. Sein Werk lebt allerdings als Schullektüre weiter. Der Steidl Verlag hat dem Schriftsteller zudem gerade mit der ‚Neuen Göttinger Ausgabe‘ ein prachtvolles Denkmal gesetzt. Was aber taugen seine Texte aus heutiger Perspektive eigentlich noch? Nicht so viel, wie gemeinhin behauptet wird, findet der Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck. Dieser ist erst im Sommer aus Calgary zurückgekehrt, wo er für fünf Jahre als DAAD Associate Professor arbeitete. Dem Niedersächsischen Landesinstitut für Qualitätssicherung im Abitur hat Süselbeck gerade empfohlen, Grass von den Lektürelisten für das Abitur zu streichen. Grass-Fan Pascal Mathéus hat mit ihm über Günter Grass gesprochen. 

Jan Süselbeck / Foto: University of Calgary

Aufklappen: Sie wollen Günter Grass von den Lektürelisten für das Abitur verbannen. Warum? 

Jan Süselbeck: Ich möchte ihn überhaupt nicht von den Lektürelisten verbannen. Cancel Culture ist ein Konstrukt, eine Chimäre. Nichts liegt mir ferner, als Schriftsteller verbieten zu wollen. In meinem Vortrag beim Niedersächsischen Landesinstitut für Qualitätssicherung im Abitur wollte ich zum Ende nur Denkanstöße dazu geben, wie man sich auch einmal andere Lektüren überlegen könnte, nachdem Grass mit Katz und Maus seit Jahrzehnten Schullektüre war und immer noch ist. Wenn Literaturkritik und Literaturwissenschaft solche Bewertungen vornehmen, bedeutet das nicht, dass etwas verboten wird, sondern es wird hingewiesen auf Mängel, verbesserungswürdige Elemente, ästhetische Aspekte von Literatur. Wenn es in der Literaturkritik zu einem scharfen Verriss kommt, gibt es ja immer auch Widerspruch. Vielleicht haben wir ja hier einen Interviewer, der anderer Meinung ist, weil er ein Grass-Fan ist und dann auch sicherlich Argumente finden wird, warum es doch wieder Gründe dagegen gibt, Literatur so zu verreißen. Das ist ein literaturkritisches oder auch literaturwissenschaftliches Gespräch, zu dem man meines Erachtens besonders beiträgt, wenn man auch scharf kritisiert. Dann bewegt sich etwas und es wird nicht ständig dieselbe Lobhudelei wiederholt. Es gibt eine Irritation, die produktiv sein kann.  

Dennoch ist diese Grass-Kritik nicht neu, sondern ein Stück weit typisch. Es stimmt nicht, dass Grass immer nur von allen Seiten belobhudelt worden wäre, sondern auch schon zu Lebzeiten schlug ihm scharfe Ablehnung entgegen­ – auch bereits vor seiner „SS-Beichte“ in Beim Häuten der Zwiebel. Hat das damit etwas zu tun, dass Deutsche nach wie vor Schwierigkeiten mit Idolen und verehrungswürdigen Künstlern haben?

Das glaube ich nicht. Bei Grass hat es damit zu tun, dass er schon immer sehr exponiert gewesen ist. Ich bin zum Beispiel in einem 68er-Haushalt aufgewachsen. Da war Grass natürlich eine Sympathiefigur. Er hat sich gegen Wiederaufrüstung eingesetzt, hat die SPD mit Willy Brandt in den 60er Jahren unterstützt. Er war 89/90 sogar gegen die Wiedervereinigung als einer der Wenigen, die sich gegen den Mainstream gestemmt haben, indem er gesagt hat, dass es einen Grund für die Teilung Deutschlands gebe, die mit deutscher Schuld zu tun hat. Für mich als Schüler war Grass natürlich eine total positive Figur. Er ist aber paradoxerweise vor allem von der Rechten scharf angegriffen worden. Die Gruppe 47 galt als eine linke Gruppierung und wurde etwa von der FAZ von rechts attackiert. Grass war aus der zeitgenössischen Perspektive erst einmal eine positive Gestalt, weil er sich gegen Prüderie eingesetzt und Sexualität offen beschrieben hat – ähnlich wie Arno Schmidt. Auch für diese Bewegung habe ich erst einmal nichts als Sympathie übrig. Er hat gegen die absolut steinerne, reaktionäre, katholische Prüderie der 50er Jahre in Der Blechtrommel und auch in Katz und Maus angeschrieben. Daher rührten viele Angriffe gegen Grass, die natürlich zurückzuweisen sind. Dann gab es aber zum Beispiel auch den Verriss von Ein weites Feld durch Marcel Reich-Ranicki. In einem berühmt gewordenen offenen Brief – eine sehr kreative Form des Rezensierens von Reich-Ranicki – blickt er zurück auf eine lange Bekanntschaft und ein langes Gespräch zwischen dem Literaturkritiker und dem Starautor. Darin geht es natürlich auch um ästhetische Fragen. Ob nun dieses opus magnum, als das Grass Ein weites Feld wohl geplant hat, so gelungen ist, scheint mir zweifelhaft zu sein.

Es ist bemerkenswert, wie stark die Autorität eines Reich-Ranicki wirkt. Ich habe Grass rauf und runter gelesen, aber an Ein weites Feld habe ich mich bis heute nicht herangetraut wegen der von ihm geäußerten Vorbehalte…

Ja, Reich-Ranicki ist einfach eine sehr wichtige Figur gewesen im Nachkriegsliteraturbetrieb. Er hat sich verdient gemacht um das literarische Leben in Deutschland. Gerade auch als ein Kritiker, der Verrisse geschrieben hat, der sich damit exponiert, vielleicht auch geirrt hat. Den Mut muss man erstmal haben.

Finden Sie, dass heute Verrisse fehlen?

Jein, das ist auch ein Forschungsinteresse von mir. Negative Kritiken sind keineswegs aus dem Feuilleton oder auch der Kritik im Netz verschwunden, aber es ist wichtig, sich ihre Bedeutung bewusst zu machen und weiter Platz dafür freizuräumen. Ich habe einen Aufsatz geschrieben über den Verriss in Geschichte und Gegenwart, der 2015 erschienen ist. Dabei kommt man natürlich auf Reich-Ranicki zurück. Wir hatten in Marburg, als ich dort gearbeitet hatte, das Marcel-Reich-Ranicki-Archiv, das Thomas Anz gegründet hat. Ich durfte Reich-Ranicki auch noch persönlich kennenlernen. Als er zur Eröffnung des Archivs in Marburg war, sind wir zusammen essen gegangen. Das war die Zeit, als ich von ihm eingeladen wurde, Gedichtinterpretationen für die Frankfurter Anthologie zu liefern. 

Die Wut auf die Literaturkritik hat eine sehr, sehr lange Tradition in Deutschland. Reich-Ranicki hat darüber Aufsätze geschrieben. Er hat 1970 ein Buch mit dem Titel Lauter Verrisse publiziert. Das Vorwort dazu ist wirklich ein toller Text, in dem er deutlich macht, dass Obrigkeitshörigkeit in Deutschland immer besonders stark war, und dass hier satirische, kluge, intellektuelle Kritik, auch scharfe Kritik und Polemik immer zurückgewiesen worden sind. Der Gipfel war das Verbot der Kunstkritik durch Joseph Goebbels im Nationalsozialismus im Jahr 1936. Das zeigt, wie wichtig Kritik für ein demokratisches Klima ist. Reich-Ranicki hat immer betont, dass es besonders jüdische Kritiker gewesen sind, die diese Art der Kritik betrieben haben. Schon im 19. Jahrhundert – denken Sie an Heinrich Heine –, dann im frühen 20. Jahrhundert Alfred Kerr und Karl Krauss, auch Walter Benjamin, der dann auch ein Opfer des Nationalsozialismus geworden ist. Es ist wichtig, sich klarzumachen, wie belebend diese Kritik ist und wie stark sie in Deutschland immer angegriffen wurde. Reich-Ranickis Cover-Karikatur auf dem Spiegel vom 4. Oktober 1993, die ihn als Hund abbildet, der ein Buch zerreißt, hat natürlich auch antisemitische Anklänge, die wir aus dem Stürmer kennen. Dass jüdische Kritiker als Monstren und zähnefletschende Tiere dargestellt wurden, geht bis ins Mittelalter zurück. Eigentlich handelt es sich bei dem Cover um eine antisemitische Karikatur, und das war während seiner Karriere auch kein Einzelfall. Bemerkenswert ist aber, dass sich Reich-Ranicki immer sehr diplomatisch zurückgehalten hat, obwohl es für ihn als Überlebender des Warschauer Gettos und der Shoah besonders hart gewesen sein muss, sich nach alledem immer wieder so dargestellt zu sehen. 

War er nicht fast sogar ein bisschen zu diplomatisch, fast etwas zu nachsichtig? In dem Gespräch mit dem Journalisten Paul Assall von 1986, das erst dieses Jahr unter dem Titel Ich schreibe unentwegt ein Leben lang erschienen ist, betont Reich-Ranicki, dass es natürlich auch unter den Deutschen Opfer des Nationalsozialismus gegeben habe: die einfachen Soldaten, die von Hitler an die Front geschickt worden sind. Darüber können wir gut auf Grass zurückkommen. In seinem Fall haben wir nun jemanden, der als Kind in die Diktatur hineingeboren wurde und die volle Indoktrination verpasst bekam. Sie haben in Ihrem Vortrag beim Niedersächsischen Landesinstitut diejenige Literatur über die NS-Zeit kritisiert, die wie Grass in der Novelle Katz und Maus Graubereiche zwischen Täter- und Opferrollen betrachtet. Ist das bei einem solchen Mann, Jahrgang 1927, nicht die einzig adäquate Perspektive, weil er in der Tat selbst aus diesem Graubereich kam? 

Da würde ich zunächst zustimmen. Klar ist es eine Herausforderung, den Alltag im „Dritten Reich“ darzustellen, der für Ottonormalverbraucher genauso aussah. Man ist zu bestimmten Dingen verpflichtet, die man vielleicht auch nicht so toll findet. Man lebt ein wenig ein Parallelleben, wenn man Leser ist, liest vielleicht sogar Bücher, die verboten waren…

Die damals verbotene und jüngst wiederentdeckte Vicki Baum wird in Beim Häuten der Zwiebel zum Beispiel als eindrückliches Leseerlebnis des jugendlichen Grass’ geschildert… 

Ja, und vor allem auch Remarques Im Westen nichts Neues, eines der verbrannten Bücher von 1933. Verschärft stellt sich die Lage für diejenigen dar, die damals Jugendliche waren und natürlich volles Rohr dieser Indoktrination ausgesetzt wurden. Wenn man keine Eltern hatte, die sich hinter verschlossenen Türen am Mittagstisch kritisch geäußert hätten, wie sollte man dem dann entkommen? Die Jugendlichen, die in Katz und Maus dargestellt werden, sind natürlich alle solche Jugendlichen. In Beim Häuten der Zwiebel beschreibt Grass aber einen Freund, der heimlich mit seinen Eltern die BBC-Sendungen gehört hat. Das kommt in Katz und Maus jedoch nicht vor. In Katz und Maus wird quasi eine vollkommen „gleichgeschaltete“ Jugend beschrieben. Und Mahlke ist überhaupt nicht so eine starke Widerstandsfigur, wie Grass in Beim Häuten der Zwiebel behauptet, wo er einen von ihm „Wirtunsowasnicht“ genannten Jungen als Vorbild für Mahlke anführt.

Nein, eine Widerstandsfigur ist er wirklich nicht.

Auch Arno Geiger, den ich in meinem Vortrag ebenfalls behandelt habe, versucht sich genau diese Grauzone anzugucken, in der Leute nicht unbedingt aktive Täter waren, sondern irgendwie mitgelaufen sind. Sie waren Zuschauer und haben als Zuschauer nichts gegen Verbrechen getan, die sie vielleicht gesehen haben, etwa Massenerschießungen, im Fall von Geigers Protagonist Veit Kolbe, einem jungen Wehrmachtssoldaten. Das ist doch die Frage: Was mache ich z.B., wenn die Nachbarn deportiert werden, weil sie jüdisch sind und die Möbel stehen billig zum Verkauf? Die meisten Deutschen haben sich dann bereichert und haben diese Möbel gerne übernommen.

Nur ist es doch noch ein Unterschied, ob jemand zu diesem Zeitpunkt erwachsen oder noch minderjährig war, oder?

Ja, aber in meinem Vortrag stelle ich die Frage, wo denn in Katz und Maus eigentlich ein ästhetisches Gegengewicht gegen die Innenperspektive dieses gesellschaftlichen Graubereichs aus Teenager-Perspektive auftaucht. Wo sind denn eigentlich die erhellenden, kritischen Einwürfe von außen? Da sehe ich bei der Relektüre des Textes wenig. 

Kommen wir an dieser Stelle noch einmal auf Joachim Mahlke, den Sie als Figur verstehen, die durchaus mit positiven Zügen versehen ist. Er verkörpert aus Ihrer Sicht vor allem die Rolle des Kriegshelden. Einerseits wird er – sicherlich metaphorisch – als Vorturner gezeigt, aber andererseits doch auch als Möchtegern-Clown. Es liegt etwas zutiefst Lächerliches in seinem Auftreten. Warum glauben Sie, dass Mahlke als überwiegend positive Figur auftritt?

Er ist sicher nicht in dem Sinne eine ungebrochene Heldenfigur, als er mitunter natürlich wirklich lächerlich auftritt. Gerade in der Turnszene, als dieser Ritterkreuzträger in der Schule zu Gast ist und mit den Schülern zusammen turnt, versucht Mahlke sich auszuzeichnen und gibt dabei eine absolut lächerliche Figur ab. Das wird genüsslich beschrieben. Und dann ständig die Wiederholung seines ätzend aussehenden Kehlkopfs, der zu groß ist und burlesk wirkt. Es ist klar, dass er immer als ein Schwerenöter dargestellt wird, der versucht, etwas besonders Tolles zu erreichen und es dann aber erstaunlicherweise auch schafft: Beim Tauchen ist er der unangefochtene Meister in der Gruppe. Er mag beim Turnen lächerlich erscheinen, aber trotzdem macht er Sachen, die die anderen nicht können. Mit der Erlangung des Ritterkreuzes als Panzerschütze krönt er das Ganze schließlich. Natürlich ist es ein ambivalentes Bild. Die Frage ist nur, inwiefern dieses Porträt den Heroismus an sich kritisiert, wie es Interpreten über Jahrzehnte verstanden wissen wollten. Ist es nicht eher so – das wäre meine These –, dass man durch die Perspektive der Novelle, die durch einen Erzähler namens Pilenz vorgegeben wird, lernt, mit Mahlke den Alltag zu erleben und dabei gewisse Sympathien für diese Figur gewinnt? Zusammen mit Pilenz staunt man über die Erfolge und die Reifung, die Mahlke durchmacht. 

Sie stützen sich bei Ihrer Grass-Betrachtung auf Erkenntnisse aus der empirischen Emotionsforschung. Erzielt ihre Forschung deshalb einen höheren Grad an Objektivität als klassisch-hermeneutische Literaturwissenschaft? 

Das ist nur ein kurzes Beispiel in dem Vortrag, der über eine Stunde lang war. Ich musste überlegen, wie ich das verknappe. Emotionswissenschaft funktioniert für mich selber eher nicht primär empirisch, sondern in der Tat nach wie vor mit den guten alten narratologischen Methoden, mit denen man beschreiben kann, wie eine Erzählperspektive funktioniert und wie dadurch z.B. so etwas wie Sympathielenkung erreicht wird. Ich habe diese empirischen Ansätze nur zitiert, um zu zeigen, dass man auch auf dieser Ebene mit unterschiedlichen Methoden hat zeigen können, dass Innenperspektiven aus der Gruppe heraus oder Icherzählerperspektiven, also autodiegetische, homodiegetische Erzählperspektiven, ein besonderes Potential haben, Leserinnen und Leser zu beeinflussen und eine Immersion zu erzeugen. Nämlich die Perspektive emotional zu übernehmen. Das scheint mir hier ein zusätzliches Argument dafür zu sein, dass wir eher mit Pilenz auf Mahlkes Seite gezogen werden, als dass wir nachhaltig auf Distanz zu dem tatsächlichen NS-Kriegshelden gebracht würden. 

Ist nicht aber Ambivalenz das entscheidende Stichwort? Pilenz zeigt sich doch gleichzeitig angezogen und abgestoßen von Mahlke. Mir geht es als Leser ähnlich. Ist dieser Mahlke mit seinem übergroßen Adamsapfel nicht ein Bild für prekäre Männlichkeit? Vielleicht sogar für etwas, was heute „toxische Männlichkeit“ genannt werden würde? Wird in Mahlke nicht der Mann in seiner ganzen Fragwürdigkeit gezeigt, der versucht diesen Makel irgendwie auszugleichen? Entweder durch Sexualität – es wird diese eigenartige Symmetrie beschrieben, die durch sein erigiertes Glied erzeugt wird, indem es dem Adamsapfel als Gegengewicht Stabilität verleiht –, durch Religion, indem man sich an Maria wendet und sich ihr Bild vor den Kehlkopf hängt, oder durch „Tüchtigkeit“ im Krieg. Irgendwie muss man mit dieser Männlichkeit umgehen. Das wird von Grass doch sehr stark problematisiert. Wäre „toxische Männlichkeit“ nicht wirklich ein adäquater Begriff, um zu beschreiben, was da gezeigt wird? 

Ja, man könnte Katz und Maus sehr gut mit Klaus Theweleits Männerphantasien lesen. Diese ganze Panzerung und Stählung der Männerkörper gegen diese innere Problematik. Körpererfahrungen, die tabuisiert werden, die sich diese Männer nicht erlauben. 

Die Frage ist doch, ob es von Grass kritisch in Szene gesetzt wird…

Mit der kritischen Theweleit-Perspektive könnte man das jedenfalls Punkt für Punkt durchgehen. Mahlke wird ja dann im Krieg auch noch Panzerschütze. Theweleit spricht von den soldatischen Männern als Individuen, die sich sozusagen eine halluzinierte Panzerrüstung zulegen und ihren Körper „stählen“, um keinen Schmerz fühlen zu müssen. Das alles trifft auch auf Mahlke zu und auch symbolisch passt das alles auf teils burleske Weise. Wieder wäre die Frage, ob das Grass so bewusst war. Theweleits Dissertation ist ja Ende der 70er Jahre eine Sensation gewesen. Das war zwanzig Jahre nachdem Grass diese Novelle geschrieben hat. Ich denke, dass es ihm nicht bewusst gewesen ist. Am Text kann man das auch sehen. Er gibt das Pubertätsgerede der Jungen, das in dieser Zeit natürlich genau von diesen Männerbildern beeinflusst ist, eher wieder, verfremdet es und versucht es dann avantgardistisch mit seiner Sprache literarisch zu überhöhen. Nochmal: Da wo Grass gegen die Fortsetzung oder Bemäntelung der NS-Ideologie in der katholischen Prüderie in den 50er Jahren arbeitet, wenn er etwa das Onanieren so offensiv darstellt, hätten wir womöglich eine kritische Perspektive im Text, ein Aufbegehren gegen dieses Sexualitätstabu. Auf der anderen Seite lese ich das aus unserer heutigen Perspektive aber auch wieder kritischer, weil es eine reine Männersexualität ist, die misogyn ist und noch keinen Respekt für Frauen erkennen lässt. Der Text selber hinterfragt das nicht. Da kommen wir ein bisschen wieder in diesen Landserhumor rein. Wir gewinnen nicht wirklich eine Außenperspektive auf diese Männer-Sozialisation. Mit Hilfe der Men’s Studies könnte man Katz und Maus auf jeden Fall gut interpretieren. Damit wäre aber für mich noch immer nicht gesagt, dass in den Text selber eine kritische Perspektive einzieht. Es ist eher so, dass wir eine skeptische Sicht auf die Novelle entwickeln können, wenn wir uns diese Ansätze zu eigen machen. Dann können wir auch bei Grass etwas finden, das Theweleit anhand ähnlicher Symboliken und Darstellungsweisen in der Freikorps-Literatur der 20er Jahre analysiert hat. Nur ist der Stil natürlich ein ganz anderer. Grass versucht in der Nachkriegsliteratur innerhalb der Gruppe 47 Anschluss an die Avantgarde zu finden. Dabei gerät er meines Erachtens allerdings hier und da ins Holpern. 

Da bringen Sie mich zum Nachdenken. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das vor dem Hintergrund meiner Kenntnisse um die heutigen Diskussionen so lese oder ob es nicht doch im Text angelegt ist. Gerade diese Momentaufnahme: Mahlke auf dem Schiff mit riesenhaftem erigiertem Glied, das für einmal den Adamsapfel ins Gleichgewicht bringt. Da hatte ich Schwierigkeiten, das anders als lächerlich und höchst kritisch zu lesen. Aber ich weiß natürlich nicht, was sich Landser so gedacht haben…

Na ja, ich kann Ihnen ein Beispiel geben: Theweleit arbeitet ja heraus, dass es das Körperinnere und vor allem das Fließende und Flüssige ist, was soldatische Männer absolut hassen. Das ist auch, was sie am weiblichen Körper fürchten und den sie deswegen zerstören wollen. Etwas, was beispielsweise auch schon Remarque in Im Westen nichts Neues beschreibt, ist dieser seltsame Landserhumor, der sich immer nur um Fäkalien dreht, um Latrinengeschichten und so weiter. Es gibt ja diese Passage in Katz und Maus, in der es darum geht, dass Mahlke als Panzerschütze an diesem Einsatzort in dieser „Tuchler Heide“ schon bekannt ist, wohin dann auch Pilenz kommt. In den Witzgeschichten, die die Kameraden über den abwesenden Mahlke erzählen, geht es dann auch ums Säubern der Latrine, was von den Soldaten als „Honigschleudern“ bezeichnet wird. Diese Verbrämung und latrinenparolenmäßigen Witze über Körperausscheidungen sind ganz typisch für Landserkommunikation. Bei Grass wird das geradezu genüsslich ausphantasiert und beschrieben. Der Text badet gewissermaßen in diesen abstoßenden Körperbildern, ist eher eine Mimikry dieser Kommunikation als deren Kritik. Ich sehe da nicht unbedingt ein Gegengewicht gegen die typische Selbstwahrnehmung von Wehrmachtskameraden. Ein Kollege aus Bochum, Sebastian Susteck (@SSusteck), der berichtete, Grass vor einem Jahr wiedergelesen zu haben, schrieb auf Twitter, dieser Autor sei „wirklich ein Meister des Ekelhaften“. 

Das Thema hält sich in der Tat in Grass’ Werk durch. Wenn wir beispielsweise an das Kapitel „Den Kot beschauen“ aus Dem Butt denken… 

Ja, es geht immer um diese Körperflüssigkeiten. Dass die in Katz und Maus auch diesen Möwendreck essen, ist schon seltsam…

Komischerweise aber ein unvergessliches Bild! Reich-Ranicki hat mit Blick auf solche Beschreibungen in seiner Blechtrommel-Kritik bemängelt, dass Grass an „fast chronischer Geschmacklosigkeit“ leide. 

Das finde ich dann manchmal wieder bei Reich-Ranicki komisch, wenn da so ein FAZ-50er-Jahre-Chiffre aufscheint, als man derart über sexuellen „Schweinkram“ dachte. Das ist nicht die richtige Kategorie, um das zu kritisieren, denn das wäre ja selber eine konservative Tabuisierung, die laut Theweleit in den 50er Jahren auch mit der Nazi-Zeit zusammenhing. Einerseits rebelliert Grass gegen dieses Körperbild – seltsamerweise aber andererseits eben eher dadurch, dass er in den Landser-Jargon zurückfällt. Ich vermute, dass es das war, was Reich-Ranicki hier meinte. Aber dazu müsste man sich den genauen Kontext dieser Formulierung noch einmal genauer ansehen.

Wir haben jetzt öfter über die Perspektive und das Ungebrochene der Perspektive gesprochen, was von Ihnen kritisiert wird. Ist das aber nicht gerade ein Vorzug der Novelle? Soll nicht gerade die Abgeschlossenheit dieser Jugendlichen vorgeführt werden, die für die Front abgerichtet wurden? Muss es nicht zwangsläufig diese Perspektive sein? 

Einerseits ja. Ich kann Ihnen Arno Schmidt als Vergleich nennen. Seine ganz großartigen Erzählungen der frühen 60er Jahre – genau dieselbe Zeit – in seinem Erzählungsband Kühe in Halbtrauer. Ästhetisch wirklich eine ganz andere Liga, sprachlich haushoch über Grass. Aber es geht auch dort größtenteils um kaputte Männerfiguren, die dann schon Nachkriegsmännerfiguren „on the wrong side of fifty“ sind, wie Schmidt das nannte. Körperlich schon im Abbau, dem Alkohol zugeneigt. In deren Gesprächen kommen Versatzstücke aus dem Krieg vor und Kriegstraumata tauchen auf. Schmidt macht das meines Erachtens ganz großartig. Auch er zeigt von innen heraus die Kaputtheit einer älteren, um 1914 geborene Generation, nur eben einige Jahre später, im ländlichen BRD-Alltag nach dem Krieg. Dagegen versucht Grass Anfang der 60er Jahre, sich in die Kriegszeit zurückzuversetzen, in dieses Teenager-Mind, das er selber mal hatte. Erstmal muss er es ja so machen. Und es ist auch verdienstvoll, sich das anzugucken. Nochmals: Mein einziger Zweifel, der jetzt aufgekommen ist, ist der, ob es ihm dabei gelingt, ein ästhetisches Gegengewicht aufzubauen, das wie bei Schmidt sichtbar machen würde, dass das kaputt ist, was da beschrieben wird. Und dass das nicht einfach der ganz normale Teenagerkram war. 

Ist es ein Kurzschluss, wenn ich dann daraus schließe, dass für Sie in dem Moment der moralische und der ästhetische Anspruch zusammenfallen? Weil das moralische Gegengewicht auch aus ästhetischer Sicht unbedingt notwendig wäre und andersherum? 

Ja, ich bin ein Verfechter eines, wenn Sie so wollen, ethical turn. Es ist eben nicht so, dass die Autonomieästhetik ethische Bewertungen von Texten ausschließen muss. Vielmehr, wie Sie jetzt eigentlich sehr schön gesagt haben, geht das Hand in Hand. Gerade Schreiben nach Auschwitz bedeutet, dass man sich ethischen Ansprüchen stellen muss, die man ebenfalls ästhetisch einholen muss. Man muss eine ästhetisch angemessene Darstellungsweise finden, um nicht Nazipropaganda zu wiederholen oder nur abzubilden. Ich konzediere ja auch, dass sich Grass sprachlich daran abarbeitet. Wir wissen ja, dass es in der Gruppe 47 ein Ringen um neue Literatur nach 1945 gab, eine neue Sprache nach Auschwitz. Und natürlich versucht Grass das hier auch. Meines Erachtens kippt er dann jedoch oft in zu gewollt avantgardistische Formulierungen um. Kunsthandwerk, wenn Sie so wollen. 

Können Sie dafür konkrete Beispiele nennen? 

Man wird z.B. immer fündig an den Stellen, die den Falken in dieser Novelle betreffen. Also immer, wenn Grass auf den Kehlkopf zu sprechen kommt oder auf das Ritterkreuz. Zum Beispiel hier: „Es hatte ein Adamsapfel, der, wie ich immer noch vermute – und obgleich er Ersatzmotoren hatte –, Mahlkes Motor und Bremse war, zum erstenmal ein genaues Gegengewicht gefunden.“ Wir könnten uns jetzt natürlich wie bei einem Gedicht diese Sprachbilder klarmachen. Es bleibt aber auf alle Fälle ein sehr holpriger Satz, den wir hier haben. 

Die Holprigkeit sehe ich auch, ja. 

Oder hier, das ist auch eine typische Stelle: Als Mahlke in der Schule zurück ist und beim Schulleiter vorspricht, weil er einen Vortrag halten will, heißt es: „Und als der Korridor amen sagte, stand, das helle Stirnfenster im Rücken, zwischen Sekretariat und Direktorzimmer, der Große Mahlke ohne Maus: denn er hatte den besonderen Artikel am Hals, das Dingslamdei, den Magneten, das Gegenteil einer Zwiebel“ – Beim Häuten der Zwiebel, nicht wahr? – „galvanisierten Vierklee, des guten alten Schinkel Ausgeburt, den Bonbon, Apparat, das Ding Ding Ding, das Ichsprechesnichtaus.“

Das ist doch nicht schlecht!

Ja, genau, das ist auch nochmal so eine Stelle, an der ich mich gefragt habe: Bist du jetzt eigentlich schief gewickelt? Es ist immer so an der Grenze. Wenn man es zweimal liest, denkt man, okay, alles ist irgendwie plausibilisierbar und aus dem Horizont der gesamten Novelle auch herleitbar. Aber es gibt dann auch so grenzwertige Formulierungen wie: „Und als der Korridor amen sagte“. Das fällt hier zum Beispiel raus. Was ist damit genau gemeint? Wenn man sich das bildlich vorstellt, entsteht meines Erachtens kein Konnex zu der gar nicht so verächtlichen Reihung von Synonymen für das Ritterkreuz. Und dann steht da sogar „Ichsprechesnichtaus“ ganz am Ende, sozusagen als Höhepunkt, was man als weiteren Beleg für Matthias N. Lorenz’ und Markus Jochs These nehmen könnte, dass es hier wieder um ein biographisches Trauma und um eine Schuld von Grass selbst geht, die nicht explizit verbalisiert werden kann und deshalb immer weiter umschrieben wird. 

Da bin ich mit ihnen einig. Gerade diese Personifikationen, bei denen er auch oft übertreibt, finden sich häufig bei Grass. Aber interessanterweise hat es an dieser Stelle ja doch gerade nicht mit dem Falken zu tun. Es ist das Bild davor. Aber die Umschreibung dieses Ritterkreuzes, also der Einfall, dass man sein schlechtes Gewissen und sein Ringen damit in Szene setzt, indem man diese immer neuen sprachlichen Anläufe unternimmt, finde ich faszinierend. 

Wenn man das Bild von Gejagtem und Jagendem aus Katz und Maus aufgreifen möchte, könnte man sagen, dass Grass auch selber von seinen Bildern gejagt wurde. Die treiben ihn gleichsam als Schreibenden vor sich her und er muss ständig vermeiden, etwas zu sagen, was 1961 für ihn wirklich nicht auszusprechen war. Ich bin gerne bereit einzuräumen, dass das mit dieser neuen, rückwärtigen Perspektive von Beim Häuten der Zwiebel und seinem SS-Geständnis aus sehr interessant zu interpretieren ist – sich diese stotternde Ästhetik in Katz und Maus einerseits in ihrer Zwanghaftigkeit, andererseits auch in ihrem tendenziellen Scheitern genau anzugucken. 

Und dieses Gejagtwerden schadet ihm aus ihrer Sicht als Künstler? Wenn er da ein klares Verhältnis zu seiner Vergangenheit gehabt hätte, wäre das anders möglich gewesen? 

Ja.

Was mich bei der Zusammenschau von Beim Häuten der Zwiebel und Katz und Maus wirklich sehr frappiert hat, ist die Passage in der Novelle, in der beschrieben wird, wie Zwiebelgeruch Leichengeruch übertüncht. Da kommen wir vielleicht zu dem nächsten wichtigen Punkt: Welche Leichen sind gemeint? In Beim Häuten der Zwiebel wird gesagt, wie nah das Konzentrationslager Stutthof an den Schauplätzen von Grass’ Danziger Geschichten lag. Die Shoah findet aber in Katz und Maus überhaupt nicht statt. Da haben sie natürlich einen sehr wichtigen Kritikpunkt an der Novelle. Nur ist das natürlich in Der Blechtrommel noch anders und auch in den Hundejahren. Also wieder die Frage: Ist das eine Frage der Perspektive oder hat das wirklich mit Grass’ problematischem Verhältnis zu diesem Thema zu tun? Reich-Ranicki schrieb etwa über die Schilderung der Reichspogromnacht in Der Blechtrommel von einem „poetischen Protest gegen die Barbarei“ und er lobte außerdem noch die Zeichnung der jüdischen Figuren in Der Blechtrommel, bei denen sich Grass’ nicht wie viele andere Nachkriegsschriftsteller eines „primitiven Philosemitismus“ schuldig gemacht, sondern „reale Gestalten“ gezeigt habe. Ist also womöglich das Ausblenden des Massenmords an den Juden in Katz und Maus kein Versäumnis des Schriftstellers Grass, der sich diesem Problem durchaus gestellt hat – früher als viele andere in den beiden großen Romanen Die Blechtrommel und Hundejahre –, sondern vielmehr wiederum eine Frage der Perspektive? 

Man könnte natürlich argumentieren, dass diese Danziger Trilogie, die diese drei Texte ausmachen, wie in einem Triptychon verschiedene Perspektiven präsentiert und wir hier mit Katz und Maus genau in der Mitte sind. In dieser Grauzone. Dann wäre das Gegengewicht nicht in der Novelle zu suchen, sondern in den anderen beiden Texten. Ich bin da von meiner Erinnerung an Die Blechtrommel her, deren Lektüre jetzt allerdings sehr lange zurückliegt, immer noch skeptisch. Aber ich finde es sehr interessant, dass Reich-Ranicki das so positiv bewertet hat. Das musste er schätzungsweise aber auch, weil in der Gruppe 47, etwa bei Böll, tatsächlich immer die Landsererinnerungen im Vordergrund standen, die die Soldaten als Opfer zeigten. Und die andere Geschichte, die all das überhaupt erst verursacht hat, die Auslöschung der europäischen Juden, kommt nicht vor. Natürlich musste sich Reich-Ranicki freuen, wenn damals überhaupt irgendwo nennenswerte Spurenelemente in dieser Richtung auftraten. 

Unter den Blinden ist also der Einäugige König? 

Tja, das müsste man sich in Der Blechtrommel und in Hundejahre nochmal genauer angucken. 

Reich-Ranicki spricht übrigens in seinem frühen Grass-Porträt Unser grimmiger Idylliker auch über Katz und Maus von der „wohltuenden Konkretheit der Zeitkritik“, die „durch einige ebenso hämische wie prägnante Beschreibungen“ in Szene gesetzt würde. 

Das wäre die positive Sicht der Dinge. Ich sehe nicht unbedingt Häme über die Jugendlichen in dem Text. Das würde meiner Deutung widersprechen. Aber eine Prägnanz leuchtet teilweise immer wieder durch die Blumigkeit hindurch. Wie Sie richtig sagen, gibt es Szenen, die man nie vergisst. Als ich die Novelle zum ersten Mal las, war ich selber so ein Jugendlicher wie die Jugendlichen in dem Text, wenn ich mich damals auch weniger für Bruttoregistertonnen von Kriegsschiffen interessiert habe als dass ich lernen wollte, so Gitarre zu spielen wie Jimi Hendrix. Ich bin frappiert gewesen, nachdem ich den Text jetzt nach etwa 35 Jahren wiedergelesen habe, wie klar mir diese ganzen Szenen auf dem gesunkenen Minensuchboot immer noch vor Augen standen. Da gab es ein Wiedersehen mit Formulierungen, die ich teils immer noch im Kopf hatte. Das muss man dem Text schon auch zugutehalten. Nur bewerte ich das aus heutiger Sicht eben anders, auch aus der Gender-Perspektive bzw. aus ethischer Sicht.  

Von sehr vielen Lesern – auch von Marcel Reich-Ranicki, dem literaturkritischen Lehrer Ihres akademischen Lehrers Thomas Anz – wurde Grass für seine große Sprachkraft bewundert. Können Sie damit also auch etwas anfangen? 

Das sehe ich heute eben auch kritischer. Nicht zuletzt, weil ich eine Dissertation über Arno Schmidt geschrieben habe. Das ist ein ganz anderes sprachliches Level. Auch Schmidt schafft Sprachbilder, bei denen man sich fragt, ob das jetzt eine Stilblüte sei. Aber die Verblüffung über die Fähigkeit von Arno Schmidt überwiegt, mit Neologismen plötzlich Dinge schlagartig deutlich zu machen, die man vorher so überhaupt gar nicht gesehen hatte. In seiner Verdichtung von Sprachbildern ist er zudem auch noch witzig und sehr polemisch. Mein Eindruck ist, dass Grass dem hinterherläuft. Er wird Schmidt, dessen wesentliche Frühwerke in den 50ern erschienen sind, zu der Zeit schon gelesen haben. Schmidt war jemand, der von der Gruppe 47 umworben wurde, aber gesagt hat: Ich setze mich dem nicht aus. Viele bewunderten ihn trotzdem als Geheimtipp. Grass versucht dem nachzueifern, erreicht die Klasse aber nicht. 

Stattdessen fand Reich-Ranicki, Grass sei schon im Frühwerk mitunter „geschwätzig“. Darin würden Sie ihm beipflichten, oder? 

Das würde ich vor allem in Beim Häuten der Zwiebel sehen. Insbesondere in der zweiten Hälfte des Textes kommt es zu massiven Redundanzen und auch Ausschweifungen in Alltagsgeschichten, in seine Zeit als Steinmetz und wie er in Berlin in der Kunsthochschule Heringe gebraten hat. Da hat es wirklich Längen und man fragt sich: Wohin entgleitet ihm denn bitte jetzt dieser Text? Was wollte er eigentlich sagen? Und auch hier holen ihn dann wieder genau diese literarischen Umwege und erzählerischen Schuldvermeidungen ein, die schon in Katz und Maus stilbildend waren. Zwei ganz stark aufeinander bezogene Texte, das ist faszinierend!

Dass er „die Wörter nicht halten“ könne, hat Reich-Ranicki dazu geschrieben. 

(Lacht) Da sind wir dann wieder beim Landser-Latrinenhumor und beim Honigschleudern. 

Reich-Ranicki war eben auch ein Berliner Schuljunge, das hat er ja immer betont! Aber noch einmal zurück zum Anfang unseres Gesprächs: Statt Grass empfehlen Sie den Gymnasien, stattdessen die Bücher von Ruth Klüger oder Maxim Biller zu lesen. Es leuchtet sehr ein, die Perspektive der Opfer zu thematisieren. Muss es aber ein Entweder-Oder sein? Wäre nicht gerade die Behandlung von Ruth Klügers weiter leben im Kontrast zu Grass wahnsinnig spannend? 

Ich stimme zu, dass es wichtig bleibt, sich die Täter genau anzusehen – Theweleit hat das in Männerphantasien zum 1. Weltkrieg und zur Freikorpsliteratur der 20er Jahre ja z.B. auch schon so gemacht. Meine Idee, auf die Opferliteratur umzuschwenken, kommt vor allem daher, dass ich mich frage, inwiefern solche Texte eigentlich bisher in Deutschland überhaupt in der Schule behandelt worden sind. In Kanada habe ich gemerkt, dass meine Studierenden zumindest Elie Wiesels Die Nacht als Text kannten und in der Schule gelesen hatten. Das ist bei uns in der Schule meines Wissens nie der Fall gewesen. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass Klassiker der Holocaust-Zeugenliteratur in Deutschland nach wie vor überhaupt keine Rolle spielen und auch den Lehrer*innen kaum bekannt sind. 

Das deckt sich mit meinem Eindruck. Eine Ausnahme: Anne Frank. 

Ja, und die singuläre philosemitische Betonung dieses einen Dokuments hat dermaßen problematische Folgen gehabt. Dieser vielfach verfälschte, bei nicht-jüdischen Schüler*innen nach einer nicht statthaften Identifikation mit dem Teenager-Mädchen Anne Frank schreiende Text – vor allem die Rezeption, die da in Deutschland passiert ist, müsste erst einmal genau aufgearbeitet werden. Dazu gibt es in Amerika längst eine viel intensivere Forschung, die fragt: Wie kann man den Holocaust an der Schule und an der Uni angemessen vermitteln? Wie vermeidet man, dass sich die Studierenden einfach mit Holocaustopfern identifizieren und nicht die große Differenz und Uneinholbarkeit dieses Leids übersehen? Wie kann man ein Verstehen des historischen Geschehens herbeiführen? Bei vielen Texten muss man dem emotionalen Appeal erst einmal entgegenarbeiten und klar machen: Nein, du weißt nicht, wie Anne Frank sich gefühlt hat, nur weil du einmal auf einem Campingurlaub Hunger gehabt hast, dabei allein in deinem kleinen Zelt hocktest und dazu auch noch Liebeskummer empfandest. Das funktioniert nicht. In gewisser Weise ist es deshalb aber auch so symptomatisch, dass dieser Text über Jahrzehnte eine so große Rolle gespielt hat und als eine Art Feigenblatt des Mitleids diente, so wie Theodor W. Adorno berichtet, er habe einmal eine alte deutsche Frau nach einer Theateraufführung oder Lesung sinngemäß sagen hören: „Also, dieses eine Mädchen hätte man doch nun wirklich leben lassen sollen!“. Ich plädiere mit Ruth Klüger ja gerade für Texte, die die Schwierigkeit des Schreibens nach Ausschwitz aus Opferperspektive selbstkritisch und selbstreflexiv hinterfragen. Meines Erachtens könnte man das auch in der Schule sehr gut vermitteln. Offenbar ist das aber bisher überhaupt noch gar nicht passiert. Ich möchte damit aber nicht – das sage ich nochmal – die Beschäftigung mit den Tätern, die ebenfalls sehr wichtig ist, und vielleicht auch über Katz und Maus funktionieren kann, verbieten.

Foto: bboellinger / pixabay.com

9 Kommentare zu „Interview: Gejagt von seinen eigenen Bildern

  1. Günter Grass ist nicht in die Diktatur hineingehören worden. Er ist 1927 im Freistaat Danzig geboren worden, der 1939 an Nazideutschland angeschlossen wurde. Das kann sogar in der Blechtrommel nachgelesen werden.

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    1. Da haben Sie natürlich recht, das ist eine sprachliche Ungenauigkeit. Worauf es in dem Interview aber ankommt, ist, dass Grass schon als kleiner Junge nationalsozialistischer Propaganda ausgesetzt war. Schließlich werden Sie auch aus der Blechtrommel wissen, dass die Nazis seit 1933 in Danzig am Ruder waren.

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  2. »Für mich als Schüler war Grass natürlich eine total positive Figur. Er ist aber paradoxerweise vor allem von der Rechten scharf angegriffen worden.« (Süselbeck)
    Mich würde interessieren, worin das Paradox besteht. Grass hat in in der »Danziger Trilogie« (von der »Die Blechtrommel« wohl in Schulen noch am wenigsten gelesen worden sein dürfte!) doch wahrlich alle Kriegsverherrlicher (»die Rechte«?) bloßgestellt.

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    1. Paradox zu seiner späteren Wahrnehmung als eher zu rechten Meinungen tendierender Schriftsteller ist wohl gemeint. Vielleicht ist Grass aber wirklich ein Beispiel dafür, dass man mit den Zuschreibungen „rechts“/“links“ nicht immer wahnsinnig weit kommt. Wird „Hundejahre“ tatsächlich in Schulen gelesen?

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