Ein Drang nach Identität – Simoné Goldschmidt-Lechner (SGL): Messer, Zungen

Von Jascha Feldhaus

Was bleibt einem übrig, wenn Fragen an die Vergangenheit unbeantwortet bleiben? Simoné Goldschmidt-Lechner gräbt autofiktional in losen persönlichen Fragmenten herum, um einen Roman zu präsentieren, der eine ganz eigene Familiengeschichte stückhaft zusammenfügt. Daraus gewinnt sie eine Idee der Identität und des Seins. In der Geschichte wird alles mit dem Wissen der Gegenwart betrachtet; vergangene Missverständnisse, Fehler oder Verhaltensweisen, aber auch die Sprache oder die Sprachen sind maßgebliche Faktoren für das Selbstverständnis der Protagonistin namens Mädchen.

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In dem Roman Messer, Zungen begegnet man zahlreichen, meist namenlosen Figuren, die im Kontext einer Familiengeschichte stehen, deren Hauptfigur Mädchen ist. Onkel, Tanten, Mutter, Vater, Brüder – zahlreich sind die auftretenden Personen, ob sie nun selbst näher betrachtet und Teile ihrer Geschichte präsentiert werden oder ob sie nur eine beiläufige Kommentarfunktion haben. Dabei behandelt der Text die Geschehnisse in chronologischer Weise. Der Leser wird von Südafrika über den Atlantik nach Deutschland geführt, erfährt dabei schonungslos die Schrecklichkeiten der kolonialen Begebenheiten; wie etwa mittels hemmungsloser Macht Identität und Geschichte ausgelöscht und Menschen in neue Zuschreibungen hineingezwungen werden. Mädchen wird von Simoné Goldschmidt-Lechner als autofiktionales Alter Ego inszeniert wird. Durch die fragmentarisch angelegten Passagen setzt sich ein bildhafter Roman zusammen, dessen kraftvollste Eigenschaft die Sprache ist.

Wie wichtig die Sprache innerhalb der Geschichte ist, aber wie sie auch darüber hinaus allgemein unterschiedliche Funktionen einnimmt, wird früh am Großvater verdeutlicht, der verschiedene Sprachen für die Polizei, die Kirche oder die Gemeinschaft lernt. Die Andersartigkeit der Sprache, wie sie sich im Einzelnen verhält, wie sie nicht den Vorstellungen entspricht: „Und da, da ist es doch, das andere, bemerken sie, in dieser Sprache, kontaktreich und niemals so, wie sie war oder ist in diesem Deutschland, das sie sich vorstellen.“ Aber auch die Sprache in der Familie ist durchzogen und geprägt von den erzwungenen Bewegungen, so dass „Mutter eine Sprache zu sprechen versucht, die sie selbst niemals beherrschen wird“, was unweigerlich Einfluss auf die Entwicklungen der jeweiligen Charaktere nimmt. Die so transportierten Sprachfehler werden zu Unsicherheiten in den Figuren, im Umgang miteinander, die Missstände konkretisieren und Klarheit für die eigene Identität bringen – retrospektiv.

Die Retrospektive wird auch zum maßgeblichen Faktor jeder Erkenntnis, wie sollte es auch anders sein, wenn sich autofiktional mit der eigenen Herkunft auseinandergesetzt wird. Dabei wird die Formel, „Später wird sie verstehen“, zum gebetsmühlenartigen (Selbst-)Vergewissern des früheren Handelns. Gleichzeitig ist aber auch Vorsicht geboten, denn jede Erinnerung ist auch immer eingefärbt von den phantasiereichen Einflüssen der anderen, was der Protagonistin durchaus bewusst ist: „Instinktiv weiß Mädchen, dass sie ihr nicht gerecht wird, dass jede Erinnerung eingefärbt ist durch die Erzählung von den Aunties und Großmutter, von Mutter.“

Die Autorin bedient sich für ihre Geschichte der Mehrsprachigkeit. Gerade das Englische wird zur zweiten maßgeblichen Sprache neben dem Deutschen, so dass ganze Passagen nur im Englischen zu lesen sind. Gleichzeitig inszeniert sie aber auch die beiden Sprachen nebeneinander, beginnt mit der einen, schreibt als Übersetzung die zweite, um dann wieder zur ersten zurückzukehren. Sie schiebt einzelne gälische oder niederländische Sätze ein, markiert damit die vielen Spracheinflüsse, die möglichen Funktionen einzelner Sprachen bei sich selbst. Sie arrangiert den Text auf verschiedene Weise, so dass Aufzählungen untereinanderstehen können, einzelne Sätze separiert auftreten, andere Sprachen den Fließtext unterbrechen. Dieses Arrangement setzt einem als Leser zu, fordert auf verschiedene Arten heraus, ist aber nicht immer zielführend, überlagert dann das Eigentliche, die Geschichte selbst. Bisweilen verliert sich der Text auch in eine lyrisch anmutende Eigenheit, die dem epischen nicht immer guttut, weil sie den Lesefluss in unpassender Art stört, dabei aber nichts oder nur wenig zum Leseerlebnis beisteuert.

Den Fragen nach Identität und dem eigenen Sein geht SGL auf ganz eigenwillige Weise nach: Die fragmentarische Anordnung mit über vierzig Kapiteln sorgt für Unruhe, die nicht durchweg negativ zu verstehen ist, aber grundsätzlich nicht wirklich zu einem klassischen Erzählen beträgt. Das haben Frank Witzel und Ivna Žic ihr voraus, weshalb dort auch spürbarer das Erzählen an sich im Vordergrund steht, was die Suche nach dem „Wer bin ich?“ miteinschließt. Was der Roman Messer, Zungen gut kann, ist, verschiedene Sprachen und Formen nebeneinander auszugestalten und die damit einhergehenden Probleme von mehreren Sprachen innerhalb einzelner Figuren zu verdeutlichen. Dafür kann eine Leseempfehlung gegeben werden.

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SGL: Messer, Zungen
Matthes & Seitz 2022
187 Seiten / 20 Euro

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Foto: Louisa Schwope

2 Kommentare zu „Ein Drang nach Identität – Simoné Goldschmidt-Lechner (SGL): Messer, Zungen

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