Der fremde Blick – Interview mit Nicola Steiner

Von Pascal Mathéus und Larissa Plath

Das fünfte Gespräch zur Rettung der Literaturkritik in der Aufklappen-Reihe Kritik der Kritik der Kritik

Literaturkritik im Fernsehen dürfte eigentlich gar nicht funktionieren, meint Nicola Steiner vom SRF. Warum der von ihr moderierte Literaturclub im Schweizer Fernsehen trotzdem etwas Zeitloses hat, und was das Magische am Lesen ist, erläutert sie im Interview mit Aufklappen.

Nicola Steiner / Foto: SRF / Oscar Alessio

Aufklappen: Marcel Reich-Ranicki hat einmal gesagt, im Fernsehen müssten alle immer ein bisschen unter ihrem Niveau bleiben. Stimmen Sie dem zu?

Nicola Steiner: Spontan stimme ich dem natürlich überhaupt nicht zu, weil ich so begeistert bin von dem Kritikerteam, das wir bei uns im Literaturclub haben. Ich habe den Eindruck, dass alle ihre Sicht auf hohem Niveau und sehr verständlich vermitteln. Es ist oft verkürzt – aufgrund der Zeit und des mangelnden Platzes, den man hat –, aber verkürzt und zugespitzt heißt nicht, dass es ohne Niveau ist. Man hat vielleicht nicht so viel Zeit, einen Gedanken auszubreiten. Unsere Sendung ist 75 Minuten lang, wir besprechen vier bis fünf Bücher pro Sendung. Das bedeutet, dass wir pro Buch um die 12 bis 14 Minuten zur Verfügung haben – bei vier Leuten ist das pro Kopf wahnsinnig wenig Zeit. Dazu kommen meine Anmoderation und eine Lesung. Jede Person hat dann vielleicht drei Minuten Redezeit, und in drei Minuten kann man natürlich nur gewisse Aspekte ansprechen. Es ist kein Text von 6.000 Zeichen, aber die Beiträge sind deswegen nicht weniger interessant und anspruchsvoll.

Wir haben den Eindruck, dass der Literaturclub in einer anderen Tradition steht als das Literarische Quartett in Deutschland, das von Anfang an durch die Person Reich-Ranicki das Streiten ins Zentrum gestellt hat. Ihre Sendung ist wohl immer ein bisschen sachlicher gewesen.

Das Literarische Quartett war sehr auf Polarisierung aus und das hat dem Ganzen sehr gut getan. Das war ja damals auch ein Unterhaltungsmoment. Man sieht Leuten gerne beim Denken, beim Sprechen zu, aber eben auch beim Streiten, bei der Auseinandersetzung. Das ist eine Art Beteiligung des Zuschauers und eine Möglichkeit, an der intellektuellen Auseinandersetzung teilnehmen zu können. Obwohl man ja einräumen muss, dass Literatur im Fernsehen klassischerweise gar nicht gut funktionieren dürfte. Das ist ein Widerspruch in sich. Dass es trotzdem funktioniert, freut mich. Der Literaturclub ist jetzt über 30 Jahre alt. Offenbar hat die Sendung etwas Zeitloses, was immer funktioniert und hoffentlich noch lange funktionieren wird. Wir haben mehr Zeit zur Verfügung als das Quartett in Deutschland, und ich glaube, wenn man sich mehr Zeit nimmt, wird es auch ruhiger. Wie stark man miteinander streitet, kommt natürlich immer auf die Kritikerrunde an. Es gibt die ruhigen, bedachten und eher versöhnlichen Menschen – und es gibt die, die gerne zündeln. Für mich als Moderatorin ist das ganze Spektrum faszinierend, ich liebe diesen Job.

Gezündelt hat Raoul Schrott in der Juni-Ausgabe des Literaturclubs zum Beispiel.

Ja, und ich schätze alle Kritikerinnen und Kritiker in ihrem eigenen Temperament sehr. Man spürt jeden einzelnen. Ich kann mich gut daran erinnern, als noch Rüdiger Safranski dabei war. Der hat Platz gebraucht, wenn er einen Gedanken entwickelt hat. Ich mache einmal im Jahr ein Moderationstraining und schaue mir meine Schwachstellen an. Die Sendung mit Safranski habe ich mir immer als Beispiel genommen, um Interventionstechniken zu üben, das war sehr hilfreich. Jetzt habe ich dafür andere Kandidaten, bei denen ich manchmal intervenieren muss (lacht).

Wegen der knappen Zeit können sie nicht jedes Buch bis ins kleinste Detail besprechen. Was möchten Sie mit der Vorstellung der Bücher erreichen?

Mein Lektüreverhalten ist sehr bulimisch. Ich lese mindestens vier Bücher pro Sendung, immer in der Freizeit, mehrere tausend Seiten – und dann haben wir 75 Minuten Zeit – pro Buch knapp über zehn Minuten. So ist das Prinzip, aber richtig gesund ist das nicht. Eigentlich sollte man sich fürs Lesen Zeit nehmen, man braucht Platz und das sollte auch in der Rezeption dementsprechend Widerhall finden. Wir versuchen, das so gut es geht zu ermöglichen. Und ich habe bisher auch nur in Ausnahmefällen den Eindruck gehabt, ein bestimmtes Buch sei nicht gewürdigt worden. Mir ist wichtig, dass die Zuschauenden einen ersten Eindruck vom Buch bekommen: Wie ist es gemacht? Ist das was für mich? Was wird da verhandelt? Das Publikum soll ein Gefühl dafür entwickeln, mit was für einem Buch sie es da zu tun haben.

Leute zum Lesen zu bringen, die nie lesen, halte ich für ausgeschlossen. Das ist Unsinn.

Welche Zuschauer haben Sie mit Ihrer Sendung im Blick? Eher ein literaturaffines Publikum? Oder geht es gerade darum, die Leute zu bekommen, die sonst vielleicht nicht lesen würden?

Leute zum Lesen zu bringen, die nie lesen, halte ich für ausgeschlossen. Das ist Unsinn. Wir machen die Sendung aber auch nicht fürs Feuilleton. Das merke ich auch, wenn ich die Zuschriften an uns lese. Das sind interessierte Menschen, die abends gerne ein Buch zur Hand nehmen, aber es muss nicht immer Krasznahorkai sein oder Peter Handke. Es darf theoretisch auch mal ein Martin Suter sein oder ein Stephen King. Die Kritikerinnen und Kritiker interessieren sich allerdings eher für Handke und Krasznahorkai. Was ich auch sehr gut verstehen kann, weil diese Bücher viel mehr Resonanzraum haben. Ein gutes Beispiel wäre Die Anomalie von Hervé Le Tellier aus der vorletzten Sendung. Bei diesem Buch setzt man den Anker und er sinkt und sinkt. Irgendwann kann man ihn hochholen und es ist eine Menge dran. Das ist nicht bei jedem Buch so, aber ich glaube, die Leute schauen unsere Sendung aus ganz unterschiedlichen Gründen. Deswegen ist es eine Herausforderung, sich zu überlegen, was das Geheimnisvolle am Lesen ist. Das Geheimnis habe ich leider, wie jeder Verleger, immer noch nicht für mich ergründen können, aber dass es da ist und nicht verschwindet, egal wieviel man liest, macht die Faszination aus. Wir wollen dem Pubilkum auch zeigen, was gerade Spannendes auf dem Markt ist. Was könnte ich lesen? Das bedeutet, man muss ihnen möglichst unterschiedliche Farben an Büchern präsentieren: unterschiedliche Regionen, unterschiedliche Welten, unterschiedliche Arten der Ästhetik und Themen. Der Büchermix sollte eine möglichst große Vielfalt abbilden.

All das wären also Kriterien, nach denen Sie versuchen, die Bücher auszuwählen. Es bringen doch aber die Gäste die Bücher mit, oder? 

Genau, es ist wie auf dem Basar. Jeder sagt, was er gerne hätte und dann findet man sich. Als Moderatorin vertrete ich auch die Redaktion und sage manchmal, was in meinen Augen noch fehlt: ein großer Erzähler zum Beispiel, oder eine Frau, ein Thema. Irgendwas kommt immer zu kurz und da setzen wir dann an. In dem Sinne habe ich drei Hüte auf: Ich bin Redakteurin, Moderatorin und eine Kritikerin in diesem Pool, wobei der Kritikerpart in der Sendung relativ übersichtlich ist.

Würden Sie Ihre Rolle eher als Vermittlerin denn als Kritikerin bezeichnen?

Ja, als Kultur- oder Literaturjournalistin mit Vermittlungs-Kompetenz und Literatur-Expertise.

Und in dieser Rolle fühlen Sie sich wohl, oder würden Sie manchmal lieber Kritikerin sein?

Ja, ich fühle mich sehr wohl in dieser Rolle der „Dreifaltigkeit“, wie wir manchmal scherzhaft sagen. Wenn ich allerdings bei der SWR-Bestenliste mitdiskutiere, macht es mir auch großen Spaß, in der Rolle der Kritikerin aufzutreten. Das fällt mir jedoch eindeutig schwerer. Das „reine“ Kritikerinnen-Dasein ist für mich wirklich eine große Herausforderung.

Es fällt auf, dass im Fernsehen die Figur des Kritikers seltener wird. Im Literarischen Quartett wird programmatisch auf Kritiker verzichtet. Bei Ihnen in der Sendung sind es auch oft Leute mit einem Zweitberuf. Ist das eine Beobachtung, die man verallgemeinern kann? Falls ja, hat das Konsequenzen für das Reden über Bücher?

Verallgemeinern kann man das glaube ich nicht. In meinen Augen gibt es nur drei relevante Literatursendungen, die über das Gespräch laufen. Das lesenswert Quartett – das sind nur Kritikerinnen und Kritiker –, das Literarische Quartett, was inzwischen die Salon-Kultur für sich entdeckt hat, und den Literaturclub. Unsere Sendung kommt aus der klassischen Literarisches Quartett-Tradition mit reinen Kritikerstimmen, wobei die Gäste oft auch aus einem ganz anderen Feld kamen. Es gab schon immer den sogenannten „fremden Blick“. Die Öffnung des Pools in andere Bereiche hat angefangen, als ich in die Redaktion kam, das war noch unter Iris Radisch. Da hatten wir schon mit Juri Steiner einen Kunstexperten in der Runde, der aber auch in Klagenfurt in der Jury saß. Ich persönlich finde, es tut dem Fernsehformat wahnsinnig gut, wenn man unterschiedliche Perspektiven auf Literatur abbildet. Wenn man sich zum Beispiel die Sendung mit dem Schweizer Architekten Peter Zumthor anschaut – ich finde, es ist nicht zu toppen, wenn man Leute hat, die aus einem anderen Bereich kommen und trotzdem eine sehr große Qualifikation haben, über Kunst oder Literatur zu sprechen. Die reine Literaturkritik steckt aus Sicht der Zuschauenden oft zu sehr im Elfenbeinturm. Es gibt wahnsinnig gute Literaturkritiker, die auch sehr anschaulich sind, aber wenn es nur noch um Ästhetik geht, droht der Bezug zur Welt manchmal verloren zu gehen. Literaturkritik ist wichtig, aber mit Leuten aus anderen Bereichen öffnet man den Blick nochmals. Das nimmt dem Publikum die Berührungsängste, so dass es sich ganz selbstbewusst eine eigene Meinung zutraut. Das Publikum soll sich angesprochen fühlen über die Diskussion, die Auswahl der Bücher und aber auch über eine Identifikation mit den Gesprächsgästen.

Manchmal reicht es schon, wenn Thomas Gottschalk dasitzt und sagt: „Ich habe jedes Buch von Handke gelesen.“

So wie, wenn etwa Thomas Gottschalk von Peter Handke schwärmt…

Man darf dabei nicht vergessen, dass die meisten Menschen, die gerne und viel lesen, nicht aus unserer Branche kommen – und das zu transportieren, diese Leidenschaft für Bücher, das finde ich sehr attraktiv. Das hat eine Wirkung, die man nicht unterschätzen darf. Manchmal reicht es schon, wenn Thomas Gottschalk dasitzt und sagt: „Ich habe jedes Buch von Handke gelesen.“

Man würde sich wünschen, dass beides zusammen ginge: Dass man Begeisterung übertragen und gleichzeitig argumentativ so scharf wie möglich bleiben kann. Daniela Strigl aus Ihrem Kritikerteam macht vor, wie das geht. Auch Klaus Kastberger kann das, genau wie Thomas Strässle, Iris Radisch, Raoul Schrott und andere. Diese Kritikerinnen und Kritiker reden sich über Ästhetik, literaturhistorische Bezüge und literaturkritische Kategorien dermaßen in Rage, dass sich die Begeisterung überträgt. Ist diese Art der Kritik manchem vielleicht auch schon wieder zu abgehoben?

Im besten Fall wäre ja beides möglich: dass man Kritikerinnen und Kritiker hat, die argumentativ stark und leidenschaftlich in der Sache sind, und die, die eine gewisse Anbindung an die Zuschauenden gewährleisten. Mir ist das wirklich sehr wichtig. Aber: Wir sind eine Fernsehsendung und wir machen trotz allem Fernsehen für die breite Masse. Wir sind late prime time, 22:20 Uhr ist einer der besten Sendeplätze, die man haben kann – und das für Literatur! Da sollte man den Leuten auch die Hand bieten. Mit Raoul Schrott und seiner Gedichtanalyse die Sendung zu beenden, ist einfach fantastisch. Die Leute haben Berührungsängste vor so anspruchsvollen Sachen, aber wenn man sie mitnimmt und hinterher erklärt, was alles in einem Gedicht von Paul Celan steckt, dann ist das genial. Wenn sie danach sagen: „Das fand ich jetzt aber doch ganz interessant“, hat man etwas erreicht.

Noch eine Frage zu der Besetzung des Literaturclubs: In der vorletzten Folge war die Aktivistin Anna Rosenwasser eingeladen. Es war auffällig, dass es bei ihr primär um politische Debatten ging und erst danach um Literatur.

Die meisten Leserinnen und Leser stecken in Berufen, die nichts mit Literatur zu tun haben, und die lesen auch ganz anders. Es ist für mich sehr spannend zu erfahren, was dieses oder jenes Buch mit ihnen macht. Genauso ist es interessant zu erfahren, wie die Kritikerinnen und Kritiker das Buch einordnen, aber das ist etwas, was ich persönlich manchmal schon ahne, wenn ich das Buch lese. Literatur ist etwas für alle – nicht nur für Literaturkritiker. Den fremden Blick finde ich dabei besonders interessant. Beni Thurnheer zum Beispiel ist hier in der Schweiz der Fußballkommentator schlechthin gewesen. Den kennt jeder, aber dass er ein Buch nach dem anderen liest, das wissen vermutlich viele nicht. Ich finde es deshalb so interessant, wenn er über Literatur redet, weil die Kriterien komplett verschoben sind. Das sind dann keine Literaturkriterien, aber es sind Kriterien. Erst dann bekommt die Literaturkritik – die es unbedingt braucht, nicht missverstehen! – einen besonderen Wert. Da wird nichts gegeneinander ausgespielt, sondern das eine ergänzt das andere.

Das klingt einleuchtend.

Wir versuchen in der Sendung, den literaturkritischen Blick immer abzudecken. Die Literaturkritik ist immer vertreten, es gibt aber einfach unterschiedliche Formen. Wenn eine Freundin von mir, die Chefärztin ist, ein Architekt, ein Fußballkommentator und ich an einem Tisch sitzen und alle ein und dasselbe Buch gelesen haben, dann wird es wirklich interessant. Das ist ein bisschen Buchclub-Atmosphäre. Man muss einfach dafür sorgen, dass es auch für die Zuschauenden immer jemanden gibt, der das Ganze in den großen Kontext stellt – und das kann eben nur die Literaturkritik. Dieses Moment haben wir eh in jeder Sendung. Ich schaue aber zum Beispiel auch sehr gerne das lesenswert Quartett, in dem nur Kritikerinnen und Kritiker sitzen. Wenn sich Leute für Literatur interessieren, schauen sie unter Umständen alle Sendungen. Und wenn die sich wiederum in ihrer Art der Literaturvermittlung ergänzen, ist das nur gut.

Auch wer ein TikTok-Video nach dem nächsten klickt, will irgendwann mal durchatmen und sich mit etwas befassen, was nachhaltig ist.

Wir hatten vorhin darüber gesprochen, ob es möglich sei, Menschen zu erreichen, die sich fürs Lesen überhaupt nicht interessieren. Bei der Diskussion im Kölner Literaturhaus zu den Kürzungen von Literaturformaten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wurde unter anderem gesagt, dass genau das der Anspruch sein sollte. Wie könnten solche Formate aussehen, wenn man neue Leute erreichen und gleichzeitig die behalten möchte, die sich vorher schon für Literatur interessiert haben?

Schwierige Frage. Bei uns in der Schweiz gibt es da ähnliche Entwicklungen wie in Deutschland. Es gibt einen wahnsinnigen Wandel in der Medienlandschaft durch die Digitalisierung, durch die Partizipation der Leute und die wegfallenden jungen Gruppen in den linearen Kanälen – das ist einer der Gründe, der den Rundfunkanstalten am meisten zusetzt: dass die Jungen weder Radio hören noch fernsehen. Diese Worte lese und höre ich zwar schon seit Jahren, aber ich sage sie trotzdem: Wir leben in einer Zäsur. Was macht man damit? Was ich beobachte, ist, dass sehr viel ausprobiert wird, und das finde ich total legitim und richtig. Ganz ehrlich: Keiner weiß, wie man es am besten macht und ich bezweifle wirklich, dass man Nicht-Leser über Medienkonsum zum Lesen aktivieren kann. Es braucht in meinen Augen frühe Leseförderung – im Elternhaus, an den Schulen. Menschen müssen mit Büchern aufwachsen, damit sie zu Leserinnen und Lesern werden, irgendeine Saat muss da sein. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung, die ich ohne irgendeine Kenntnis von Studien entwickelt habe. Wobei man die Erfahrung, die ich aus den letzten 20, 30 Jahren habe, auch als eine Art Studie sehen kann, die ich selbst bei meiner Arbeit erhoben habe. Unser Ziel sollte sein, Menschen anzusprechen, die nicht jeden Tag ein Buch in die Hand nehmen und trotzdem ein grundsätzliches Interesse an Literatur haben. Ich glaube aber, in diesem Wandel steckt ganz allgemein sehr viel Raum für Kreativität. Auf der anderen Seite kannst du den Menschen die klassische Sehnsucht nach Orientierung und Vertiefung nicht austreiben. Auch wer ein TikTok-Video nach dem nächsten klickt, will irgendwann mal durchatmen und sich mit etwas befassen, was nachhaltig ist. Ich glaube, dass Menschen weiterhin Freude daran haben, wenn sie etwas Neues entdecken, wenn sie meinen, etwas zu verstehen. Das ist ein wahnsinnig euphorisierendes Moment. Beim Lesen meint man manchmal, gerade ein Stück Welt geschnuppert zu haben, und dann ist es wieder vorbei und man sucht den nächsten Moment. Das ist das Magische, oder? Ich glaube fest daran, sonst könnte ich meinen Job nicht machen.

Eine sehr schöne Beschreibung von dem, was beim Lesen passiert! Sie haben vom Ausprobieren neuer Formate gesprochen. Sie versuchen so etwas ja auch mit den Steiner & Tingler-Clips, von denen wir große Fans sind. Machen Sie mit diesem Format weiter?

Ja, wir machen jetzt noch eine Staffel im November, das ist dann die zehnte sogenannte „Staffel“. Ein sehr großer Begriff für eine übersichtliche Anzahl Videos, die aber auch sehr zeitaufwändig sind, weil die Vorbereitung sehr arbeitsintensiv ist. Das war ein Experiment und ich bin auch ein großer Fan davon. Vor zwei oder drei Jahren hat man uns die erste Staffel bewilligt und dieses tolle Team aus total jungen Filmern akquiriert. Wir haben einen Testlauf gemacht, der eigentlich gar nicht zur Veröffentlichung gedacht war. Das wurde dann einfach gesendet, weil es überzeugt hat, und dann gab es immer noch eine Staffel mehr. Es macht mir großen Spaß mit Philipp Tingler. Das ist so eine ehrliche Art. Wir schenken uns nichts, man darf erst mal alles. Auch das ist interessant: Die Frage, wie man in diesen Medien, die mir komplett fremd sind, eine neue Identität finden und sich neu erleben kann. Das ist ja in der Literatur auch oft so.

Apropos Identität und digitale Formate: Sie haben bestimmt Trick Mirror von Jia Tolentino gelesen, oder? Den Gedanken von einer digitalen Identität, die sich an unzählige unterschiedliche Kommunikationspartner zugleich richtet, fanden wir ziemlich bedrohlich. Es leuchtet ein, dass es in dem Moment zu einer Überforderung der Konzepte „Identität“ und der „Kommunikation“ kommen kann. Es braucht auch Strategien, sich zu schützen und Grenzen zu setzen. Das Überlappen von Privatem und Job sehen wir bei ganz vielen Menschen, die im Literaturbetrieb arbeiten. Auch bei uns, die wir das hier als Hobby machen, aber die Hoffnung haben, irgendwann beruflich daran anknüpfen zu können.

Abgesehen davon, dass die gesamte Buchbranche auf Ausbeutung fußt, steckt in diesem ganzen Wandel sehr viel sogenannte Freiwilligenarbeit, gerade bei den neuen Formen der Literatur im digitalen Bereich. Ich kenne die Zahlen nicht, aber ein Großteil sind private Eigeninitiativen und keine Medienhäuser. Sowohl im Bereich Podcast als auch in den Sozialen Medien sind es oft Leute, die es von sich aus machen, ganz viel investieren und nichts dafür bekommen. Das ist natürlich eine Form, die das System durcheinanderbringt, weil man plötzlich nicht mehr für Inhalte bezahlen muss. Ich möchte mich da gar nicht für den Kapitalismus aussprechen, aber für Wertschätzung, und die hat auch damit zu tun, dass man für Qualität zahlt. Ich habe da gar keine fixe Meinung, aber ich beobachte das und frage mich, wie man das austarieren kann. 

Sie haben schon Recht, dass auch wir etwas Fragwürdiges machen, wenn wir in Konkurrenz treten zu den Leuten, die davon leben, diese Inhalte anzubieten. 

Für Inhalte sollte man einfach in irgendeiner Form zahlen, und seien es die Rundfunkgebühren. Wir hatten in der Schweiz diese Abstimmung „No-Billag“ gegen die Rundfunkgebühren, da haben wir echt gezittert. Die Abstimmung ging mit 71 Prozent der Stimmen für den Erhalt der Gebühren aus, was für alle eine große Erleichterung war. Die Leute wissen zu schätzen, dass wir sehr sorgfältig arbeiten, Fakten überprüfen und redlich versuchen, guten Journalismus zu machen.

Schaffen Sie es eigentlich neben Ihrer Arbeit für Radio und Fernsehen noch nebenbei zu lesen oder ist das völlig ausgeschlossen?

Ich lese Sachen „nebenbei“, die aber auch Pflicht sind – für Jurys, für Moderationen, für Radio und Fernsehen, die SWR Bestenliste, den aspekte-Literaturpreis

Würden Sie sich wünschen, dass es mehr Platz für eigene Lektüren gäbe?

Ja, wahnsinnig! Stephen King zum Beispiel wollte ich immer mal lesen, deshalb habe ich den jetzt einfach mal in eine Sendung genommen. Die Kritikerinnen und Kritiker waren allerdings nicht so begeistert von meiner Wahl (lacht). Vor allem würde ich zwischendurch auch gerne mal Klassiker lesen, weil ich finde, dass man sich dadurch erdet und wieder weiß, was wirklich relevant, gut und dauerhaft ist. In Lech kuratiere ich jetzt ein eigenes Literaturfestival, bei dem immer ein Klassiker im Mittelpunkt steht, dieses Mal war es der Simplicius. Darüber freue ich mich sehr, weil ich finde, dass Klassiker ganz grundsätzlich nicht genug gewürdigt werden können.

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Zum Weiterlesen:


László Krasznahorkai: Herrscht 07769
S. Fischer 2021
416 Seiten / 26 Euro

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Stephen King: Billy Summers
Heyne 2021
720 Seiten / 26 Euro

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Hans J. Chr. Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus
Die Andere Bibliothek 2018
768 Seiten / 26 Euro

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Peter Handke: Die Obstdiebin
Suhrkamp 2018
559 Seiten / 34 Euro

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Hervé Le Tellier: Die Anomalie
Rowohlt 2021
352 Seiten / 22 Euro

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Titelbild: geralt / pixabay.com

2 Kommentare zu „Der fremde Blick – Interview mit Nicola Steiner

  1. Danke für dieses spannende Gespräch! Es ist wirklich interessant zu lesen, wie die Perspektive von „Hinter den Kulissen“ entsteht und was sie über die Sendungen und den Literaturbetrieb denkt.

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