Wenn man vom Teufel spricht – Eva Menasse: Dunkelblum

„Der kleine Gott der Welt bleibt stets vom gleichen Schlag, / […]. Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.“ 

Von Matti Borchert

Im österreichischen Dunkelblum, im Burgenland an der ungarischen Grenze gelegen, haben die Menschen Verbrechen begangen. Doch sie und ihre Geschichte(n) scheinen größeren Gesetzen zu unterliegen. Gott schaut in die „Puppenhäuser seines Modellstädtchens“; dabei ist er im Bunde mit dem Teufel, der tatkräftig mitgebaut hat an diesem boshaften Dunkelblumer Menschenschlag. Die auch in der Kirche des Ortes anzutreffenden Teufelchen verhöhnen selbst die moralisch integren Bürger. Gerade im Moment der vermeintlichen Aufarbeitung der Naziverbrechen scheinen sie dem Menschen zuzujubilieren: „Das ist nicht das Ende der Geschichte.“ Wartet nur ab!

Kaufen bei:

Die Botschaft von Eva Menasses neuestem Roman klingt so desillusionierend wie wahr angesichts der Geschichte Dunkelblums, die der Roman auf über 500 Seiten entfaltet: Der Mensch könne den Verbrechen der Geschichte nicht entkommen und sehe sich überdies jederzeit der Gefahr ausgesetzt, ihnen wieder zu verfallen. Die Ausrichtung des Romans könnte jetzt leicht ins Klischeehafte verfallen, das ewige Thema vom Kampf zwischen Gut und Böse, von Gräueltaten und vom Vergessen flach herunterbeten im Pathos der Moralpredigt – endlich mal aufräumen mit der Nazivergangenheit. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der Roman ist so geschickt komponiert wie kaum ein zweiter dieser Jahre. Nach aller zeitgenössischen Gestaltungskunst baut der Text auf einer ausgesprochenen Perspektivbreite sowie auf einer stets ins Ironische fallenden Erzählinstanz auf, die sich überdies regelmäßig in amüsierender Distanz zu geschichtstheoretischen Reflexionen einlässt. 

Dunkelblum wird im Jahr 1989 aufgeweckt aus seinem historischen „Dornröschenschlaf“: Flüchtlinge aus der DDR passieren die ungarisch-österreichische Grenze, um in die BRD weiterzuflüchten. Der Ort ist wieder Teil des großen Geschichtsflusses. Diese Wahrnehmung entwickelt für viele Bewohner eine ungeheure Dynamik, als zusätzlich auf der Rotensteinwiese eine Kriegsleiche gefunden wird, als ein geheimnisvoller Gast auf den Spuren der eigenen jüdischen Vergangenheit in den Ort kommt und als eine Gruppe junger Menschen den jüdischen Friedhof restaurieren möchte. Eine Erinnerung tritt übermächtig zu Tage, die von den Einwohnern Jahrzehnte verdrängt und begraben worden ist: die Erschießung zahlreicher ungarischer Juden am Ende des 2. Weltkrieges nach einem rauschenden Besäufnis im Schloss des ehedem dort wohnenden Grafengeschlechts. 

Die einen wollen aufarbeiten, viele verschleiern, manche eine gute Story, wiederum andere überrumpeln mit ihrer Fluchtgeschichte eine Gesellschaft, die lieber von allem verschont bliebe. In dieser Komplexität entfaltet Menasse ein facettenreiches Kleinstadtpanorama, das die unterschiedlichsten Figuren, ihre Geheimnisse und Verwundungen einfängt. In Dunkelblum wohnen die Betrogenen, Betroffenen, Verstrickten, die Zuschauer und Akteure. Dort gibt es die Nutznießer und Willfährigen des NS-Regimes wie etwa Dr. Sterkowitz, der die Stelle des zur Flucht gezwungenen Stadtarztes Dr. Bernstein übernommen hatte. Im Ort wohnen aber auch politische Mitgestalter der NS-Verbrechen wie der Gauleiter Ferbenz, der jetzt noch Amigo-Politik betreibt und die alten Naziverbrecher schützen möchte. Dort gibt es die ehemaligen Hitlerjungen, die bewusst oder unbewusst an den Verbrechen des Ortes mitgewirkt hatten und nun daran interessiert sind, dass die Geschichte einmal zur Ruhe kommt. Auch unter ihnen befinden sich Leute, die profitieren konnten von der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung in Dunkelblum wie etwa der „geflickte Schurl“.

Im Zentrum all dieser mutwilligen oder opportunistischen Naziverbrecher stand aber Horka. Er ist vor allem deswegen glühender Nazi gewesen, weil ihm das Regime ermöglicht hat, seinen nicht von dieser Welt erscheinenden Furor auszuleben. Er hat verprügelt, vergewaltigt und getötet; auch dann noch, als er aus Mangel an Personal trotz seiner Judenverfolgungen Polizeichef des Ortes unter der Sowjetbesatzung geworden ist. 

Menasse schafft es, die unterschiedlichen Motive, den regionalen und sozialen Ton der Menschen einzufangen, die Komplexität der entzündeten Konflikte plastisch darzustellen: die Vorurteile der jungen und gebildeten Menschen gegen ihre Dorfalten; die Kritik an den jungen „G’studierten“, die eben gar nicht wüssten, wie es damals gewesen sei; die Angst der Profiteure vor der Rückkehr der jüdischen Bevölkerung, aber auch der Neid der Zurückgebliebenen auf die Erfolgreichen, die Verdächtigkeit alles Intellektuellen und die Abscheu alles Bäuerlichen, der Hass auf die „Drüberen“ aus Ungarn, die Furcht vor den DDR-Flüchtlingen, die verklärte Sehnsucht nach der Rückkehr des alten Adels, die Konflikte der Ortspolitik, die kleinen Eskapaden und großen Skandale der Familien. All diese Sequenzen mischen sich unter die große Angst des Ortes vor seiner Geschichte. – Die „kleinen schwarzen Teufel“ hocken eben im Detail. Hundewelpen sehen aus wie Teufelchen, Altnazis lachen wie Teufel, die gefiederten Teufelchen des Altarbildes begegnen den Menschen vielerorts. Die Fratzen lachen überall. Der Mensch kann den kleinen und großen Geschichten nicht entkommen, weil er nun mal immer etwas tun müsse und sich in die Welt werfe, heißt es an einer Stelle im herodoteischen Duktus. Es ist zum Totlachen.

Allerdings ist es so eine Sache mit der Geschichte. Die Menschen sind Geschichte und Geschichten, ohne aber ihrer wirklich habhaft werden zu können. Das schafft man auch in Dunkelblum nicht. Die unternommenen Versuche der alten Nazis, sich in ihren Geschichten als Opfer zu stilisieren, zünden nicht; die jüdische Geschichte des Ortes bleibt nurmehr verschleiertes Fragment, jüdische Grabsteine werden mit Hakenkreuzen übersprayet, die Grafengeschichte wird nicht fortgesetzt, ja selbst eine eindeutige Erzählung über die entscheidende Nacht, in der die ungarischen Juden erschossen worden sind, bekommt man nicht mehr zusammen. Die Ereignisse bleiben im Dunkeln. 

Selbst der Dorfchronist wird von der Brüchigkeit der Erinnerungen eingeholt, als er ein Verbrechen der Altnazis aus seiner Kindheit rekonstruieren will. Er muss sich eingestehen, das Ereignis nicht mehr richtig erzählen zu können: „Und das ist eben das Problem mit der Wahrheit. Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nicht mehr richtig zusammen. Denn von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind immer gleich schon ein paar tot. Oder sie lügen, oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis“. Der Roman will schon in seiner polyperspektivischen Anlage geschichtstheoretisch sein; er ist keiner der einfachen Anklage, sondern der Reflexion darüber, wie prekär und brüchig das Menschsein und erst recht das Erzählen davon ist.

So bleiben die größten Verbrechen kaum mehr gewusst und haben sich doch als Trauma in die Stadtgeschichte eingeschrieben: „[…], was so lange nicht gestört hat, sollte es auch weiterhin nicht tun. Und je länger etwas her ist, desto weniger spielt es eine Rolle. Die Zeit, die vergeht, verändert die Dinge, das wissen sie doch. […] Aber einen schief verheilten Bruch, mit dem einer schon Jahre herumgelaufen ist – den kriegt man nicht wieder gerade. Wenn man aber es unbedingt will, muss man neu brechen. Das müsste dann ein zweites Mal verheilen.“ Die Aussage des alten Sterkowitz ist keineswegs als Relativismus oder Apologie zu verstehen. Die zynische Einstellung unterstreicht ja geradewegs die ungeheure Unfähigkeit des Menschen, sich mit der eigenen Geschichte heilsam auseinandersetzen zu können. So ist auch das Teufelslachen nicht fröhlich, sondern hämisch. Ein maliziöses Auslachen des Menschen, der an all dem erdachten Greul der höheren Mächte so bereitwillig mitspielen will, ihn lieber eingipst als aufzubrechen. Wie viele Alte des Ortes lassen sich weiter verleiten, zu lügen, zu prügeln und zu bedrohen, um die toten Juden im Erdreich zu lassen. 

Wir können uns mit Mephistopheles ergötzen an seinem schönen tierischen Modellstädtchen – auch in Dunkelblum wird alles so wie immer bleiben. Dass wir uns dafür interessieren, liegt an der hohen Kunst Menasses.

* * *


Eva Menasse: Dunkelblum
KiWi 2021
528 Seiten / 25 Euro

Kaufen bei:
#supportyourlocalbookstore

Foto: NastyaSensei / pexels.com

2 Kommentare zu „Wenn man vom Teufel spricht – Eva Menasse: Dunkelblum

  1. Ist eigentlich irgendwas rund um Eva Menasse passiert, das erklärt, dass ihr mir Abstand bester Roman (und definitiv auch einer der deutschsprachigen Romane vergangenes Jahr, bei dt. und östereichischem Buchpreis nichtmal auf der Longlist stand?

    Like

Hinterlasse einen Kommentar