In München steht ein Dichterhaus – Hans Pleschinski: Am Götterbaum

Von Matti Borchert

Münchner Kulturpolitik und ein vergessener Nobelpreisträger bilden den Stoff für den neuen Roman von Hans Pleschinski. Der Autor setzt damit seine romangewordene Ahnengalerie deutscher Schriftsteller fort. Am Götterbaum ist zwar als Hinführung zu Paul Heyse interessant, erscheint aber letztlich als literarisch dürftiges Elaborat aus einer zur Serie verkommenen Produktlinie. 

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Hans Pleschinski ist ohne Zweifel ein kluger und versierter Literat. Neben seinen Tätigkeiten für den Bayrischen Rundfunk hat er sich insbesondere als Herausgeber und Übersetzer von Briefen, Tagebüchern und Erzählungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert hervorgetan. Außerdem ist Pleschinski Schriftsteller. Seine Romane verfolgen ein erkennbar wiederkehrendes Muster: Sie befassen sich mit wegweisenden deutschen Autoren der Vergangenheit und ihrer kulturellen Wirkung auf die zeitgenössischen und nachfolgenden Generationen. In dem 2013 erschienenen Roman Königsallee wird das Thema anhand eines Besuchs Thomas Manns in Düsseldorf im Jahr 1954 ausgebreitet; in Wiesenstein aus dem Jahr 2018 geht es um die letzten Jahre Gerhart Hauptmanns. In seinem neuen Buch Am Götterbaum nimmt sich Pleschinski nun einer vergessenen deutschen Dichtergröße an: Paul Heyse, des ersten deutschen Nobelpreisträgers der Literatur. Schon die Auswahl des Stoffes macht neugierig, muss man doch ohne Zögern eingestehen, von Paul Heyse vorab nur bedingt etwas gehört, geschweige denn gelesen zu haben. Doch ein interessanter Stoff ist nicht genug. 

Die Handlung ist schnell erzählt: Am Heyse-Tag trifft sich in München eine illustre Gruppe aus Akademikern zu einem Begehungstermin der alten Heyse-Villa am Götterbaum in der Luisenstraße 22. Geplant ist, aus dem heruntergekommenen Gebäude ein Kultur- und Literaturzentrum zu machen, um nicht nur den vergessenen Nobelpreisträger einer breiteren Öffentlichkeit zurück ins Gedächtnis zu rufen, sondern zugleich Münchens internationalen Ruf kulturell aufzuwerten. Die Gruppe, die hierfür Planung und Expertise liefern soll und auch selbst auf etwas Reputation hofft, besteht aus der kulturpessimistischen, die Vergangenheit verklärenden Stadträtin Antonia Silberstein, der mäßig erfolgreichen, Heyse ablehnenden Schriftstellerin Ortrud Vandervelt, der Heyse idealisierenden Bibliothekarin Therese Flößer sowie dem Heyse-Experten und Literaturprofessor Harald Bradford samt seinem Mann Deng Long. 

Auf der gemeinsamen Suche nach der Villa im Münchner Zentrum ergibt sich mancher Konflikt um Heyse, der nicht immer aufgelöst werden kann und zu zeitweiligen Verwerfungen in der Expertenrunde führt. Die Konfliktlinien ziehen sich entlang der kulturellen Bedeutung des 19. Jahrhunderts, der literarischen Qualität des Œuvres Heyses sowie der politischen Notwendigkeit eines solchen Kulturzentrums in Zeiten wachsender ökologischer und politischer Krisen. Daneben geraten aber auch Themen tagespolitischer und akademischer Natur in den Blick. Über die Bologna-Reformen diskutiert die Gruppe genauso leidenschaftlich wie über Literaturtheorien. Dabei wird Heyse in jeder Auseinandersetzung herangezogen und unendlich oft zitiert: Gedichte sowie Auszüge aus Dramen und Erzählungen durchdringen den ganzen Roman. Hinzu kommen vorgetragene Passagen aus den Memoiren des Schriftstellers sowie biographische und kulturgeschichtliche Referate der Figuren. Sogar ein eigenes Kapitel über Heyse am Gardasee fließt in den Roman ein. All diese Textstücke lassen das ganze Buch zu einem Baukasten werden, mit dem man Leben, Denken und Werk Heyses rekonstruieren kann; ein Sammelsurium, das dem unwissenden Leser zwar durchaus viele neue Erkenntnisse bringen kann, aber aufgrund seiner Fülle und zuweilen recht unmotivierten Integration auch unübersichtlich gerät. 

Redundant wirken zuweilen ebenfalls die Streitgespräche innerhalb der Gruppe. Zugegeben: Die vielen Dialoge entbehren mitunter nicht des Witzes. So entpuppt sich die kulturelle Überhöhung des 19. Jahrhunderts durch die Stadträtin als Leerformel, weil sie von den kulturellen und politischen Strömungen, aber auch von den sozialen Konflikten der Heyse-Zeit eigentlich gar nichts weiß. Sie bleibt Technokratin des 21. Jahrhunderts. Auch Vandervelts Ablehnung Heyses wird als gekränkte Eitelkeit entlarvt. Die Schriftstellerin kann besser theoretisieren und plaudern als schreiben. Insgesamt drehen sich die Gesprächsthemen jedoch im Kreis. Die Figuren verharren bei ihren Positionen und entwickeln sich im Ganzen kaum weiter. Die Argumente werden stets nur wiederholt –; und weil die Figuren nicht abwägen können, nicht aus ihrer Haut kommen, geraten sie allmählich zu stereotypen Figuren: die Technokratin, die gescheiterte, neidische Schriftstellerin, die einseitig belesene Bibliothekarin und der homosexuelle Kulturliebhaber, der seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hat und Professor geworden ist. Sein Mann, Deng Long, besitzt übrigens Schönheitssalons. 

Neben plastischen Beschreibungen der Architektur Münchens unterbrechen auch eingeschobene Episoden des Stadtgeschehens im Umfeld der Gruppe die Handlung regelmäßig. Auf den ersten Blick geraten sie erheiternd, porträtieren sie doch recht anschaulich die Überreiztheit und Witzlosigkeit der urbanen Gesellschaft. Auf den zweiten Blick erschöpfen sich viele Episoden jedoch in unzähligen Klischees. So geraten zwei junge Geschäftsleute aneinander, weil sie auf ihr Handy starren und gegeneinander laufen. Ein andermal wird die Stadträtin fast von einem elektrischen Roller gerammt. Diese und weitere Szenen sollen auf die Abstrusitäten der spätkapitalistischen, dekadenten urbanen Gesellschaft hinweisen und in den gemeinsamen Chor der Zivilisationskritik einstimmen, der vorneweg von der Stadträtin angestimmt wird. Dieser Ton ist vielfach bekannt und kann hier nicht mehr mitreißen.

Überzeugend wirkt auch die Pointe des Romans nur bedingt. Angekommen und das Grundstück betreten, müssen die Experten erkennen, dass die Villa von zwei Arbeiterfamilien bewohnt ist, die nicht weniger mit dem Schriftsteller vertraut sind und ihr Haus längst selbst zum Begegnungsort mit Heyse haben werden lassen, indem sie dort regelmäßig einige seiner Stücke aufführen. Überdies ist in der ehemaligen Heyse-Villa am Gardasee schon ein internationales Heyse-Zentrum im Entstehen begriffen, wie die Gruppe am Ende erfahren muss. Der Gang durch München, der ganze Streit – vergebliche Mühe. Dass Projekte in Deutschland mittlerweile immer Gefahr laufen, von der Zeit eingeholt zu werden, und dass die ‚einfachen Leute‘ mit ihrem vermeintlich angeborenen Menschenverstand die Angelegenheiten immer viel unprätentiöser und praxisnäher im Griff hätten, sind als Erklärungsmuster so hergebracht wie ermüdend.

Was bleibt am Ende von diesem Roman? Pleschinski hat ein zuweilen reizendes und amüsantes Buch geschrieben, das aufgrund seiner Qualitäten als Reiseführer Münchens und als Steinbruch zur Erstbegegnung mit dem vergessenen Heyse durchaus lohnend ist. Anregend sind auch die Gespräche über Heyses Schreiben, über Realismus und Naturalismus über Novellen- und Romantheorie. Ansonsten hat der Roman aber literarisch wenig zu bieten. Eine karge Handlung, klischeehafte Episoden, stereotype Figuren, eine müde Pointe und viel Zitat. Damit wäre Am Götterbaum womöglich immer noch als nette Lektüre für einen Sonntagnachmittag im Spätsommer zu empfehlen, gäbe es nicht den Umstand, dass jeder Roman Pleschinskis im Grunde nach gleichen Mustern funktionieren soll. Auch Königsallee und Wiesenstein sind ein einziges Zitat, auch in ihnen treffen immer ähnliche Figuren aufeinander, um über Dichtung und Dichter zu streiten. Die Lektüre eines dieser Bücher genügt wohl, um Pleschinskis Schreiben kennenzulernen.

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Hans Pleschinski: Am Götterbaum
C. H. Beck 2021
280 Seiten / 23 Euro

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Foto: Alexas_Fotos / pixabay.com

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