Narben im Sand – Svenja Leiber: Kazimira

Von Florian Wernicke

„[…] wein, mein Söhnchen. Dass Du wieder weich wirst, sonst kannst du nicht leben.“ So beschwört Protagonistin Kazimira ihren Sohn Ake. Denn auch er trägt die Narben der Geschichte am eigenen Leib. In ihrem mittlerweile fünften Roman präsentiert sich Svenja Leiber als Autorin einer aufwändig recherchierten, nüchtern präsentierten und zugleich erschütternden Geschichte. Alles getragen von einer Frau, die, der Zeit enthoben, für viele weibliche Schicksale steht und einer Umgebung, die der Verwüstung ebenso ausgesetzt ist, wie die dort lebenden Menschen.

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Aus dem zufälligen Fund eines Bernstein-Reservoirs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im ehemals ostpreußischen Baltikum erwächst eine ganze Industrie. Sie bringt Arbeit und Wohlstand in die Region. Auch die noch junge Kazimira und ihr Mann Antes leben vom Abbau des Edelharzes. Antes wird vom Grubenbesitzer Moritz Hirschberg als begabter Dreher und Schnitzer sehr geschätzt. Mit der steigenden wirtschaftlichen Prosperität mehren sich auch die Vorbehalte gegenüber jenen, die vom Extraktivismus profitieren. Der wachsende Antisemitismus im deutschen Kaiserreich führt in seiner extremistischen Form zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zur Vertreibung der Hirschbergs und schließlich zur Ermordung tausender Frauen und Mädchen in der örtlichen Anna-Grube. Kazimira wird Zeugin dieser Verbrechen.

Svenja Leiber hat mit ihrem fünften Buch einen Hybriden aus exakt recherchiertem Geschichtsbuch, historischem Drama und einem Familienroman erschaffen, dem es nicht an Eingenständigkeit mangelt. Doch neben den bereits geschilderten Inhalten ist Kazimira noch mehr: Der Roman ist auch die Geschichte seiner Protagonistin, die sich nicht mit den Restriktionen der sie umgebenden Zeit und Gesellschaft arrangieren möchte. Kazimira will Anteil am Erwerbsleben haben, für sich selbst Sorge tragen können, nicht Mutter werden und fühlt sich zu einer Frau hingezogen, wenngleich sie ihren Sohn Ake sehr lieben wird. Keiner dieser Wünsche wird sich für Kazimira dauerhaft erfüllen, und so gerät sie zur Stellvertreterin für eine Vielzahl von Frauenschicksalen, die durch Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt bestimmt sind.

Die Idee zu Kazimira kam Svenja Leiber, nach eigener Aussage, bei den Recherchen zu einem thematisch eigentlich anders konzipierten Buchprojekt. Durch lange Interviewsitzungen mit einer älteren, aus Ostpreußen stammenden Frau aus Leibers Heimatort kam ihr die Idee zu Kazimira. Dieser Impuls wurde durch die historischen Berichte des Historikers Andreas Kossert über die Massenmorde der Nationalsozialisten in der bereits benannten Anna-Grube ergänzt und schuf so die Grundlage der Romanerzählung.

Die Zusammenführung der geschilderten Perspektiven und Schwerpunkte allein kann als intellektuelle Herausforderung verstanden werden. Diese nimmt Svenja Leiber mit großem Geschick und ausgeprägtem Sachverstand an. So komplettiert sich mit jeder Seite der Eindruck einer Schriftstellerin, die mit großem Ernst, Respekt vor der Geschichte und ihren Opfern und einer nicht ins Zaghafte ausweichenden Klarheit dieser Fusion annimmt. Auch die Gestaltung des Buches trägt diese Handschrift. So zeigt der Buchdeckel eine Karte mit Synagogengemeinden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Ostpreußen, die Lesende an deren Existenz und Verschwinden erinnern soll.

Allein das Erzählerische bleibt hinter all der nüchternen Deutlichkeit, um die Leiber offenkundig bemüht ist, etwas zurück. Zwar schafft man es im Lesen, sich den von ihr geschaffenen Figuren empathisch zu nähren, doch bleibt eine Art gläserne Wand zwischen ihnen und denen, die sich durch die Seiten bewegen. Der Grund hierfür ist eine eher pädagogisch komponierte Sprache, die sehr detailliert und – richtiger Weise – exakt durch die Geschichte führt. Allerdings wirkt Kazimira dadurch teilweise unentschlossen, ob es nun ein historischer Roman oder ein romanhaft inspirierter Historienbericht sein soll. Dadurch entsteht über einige Passagen des Buches der Eindruck, es handle sich um Pflichtlektüre aus der Oberstufe. Was schade ist, doch dem ansonsten äußerst gelungenen Werk allerhöchstens in der B-Note ein paar leichte Abstriche einbringt.

Kazimira ist nichts für seichte Nachmittage im Café; es ist das Buch für eine tiefgründige Leseerfahrung, die einem auch so schnell nicht mehr aus dem Kopf geht. Denn Svenja Leiber erinnert uns daran, dass die Orte, die uns umgeben nicht selbstverständlich oder ohne das Vergehen menschlicher Schicksale entstanden und vergangen sind. Und so ist Kazimira auch hier wieder beides: Eine Einladung und eine Ermahnung, die Orte, an denen wir leben und Leben schaffen, als jene einer gemeinsamen Geschichte zu betrachten und sorgsam mit dieser umzugehen.

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Svenja Leiber: Kazimira
Suhrkamp 2021
336 Seiten / 24 Euro

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Foto: Gallila-Photo / pixabay.com

3 Kommentare zu „Narben im Sand – Svenja Leiber: Kazimira

    1. Liebe marinabuettner,

      vielen Dank für Ihren Kommentar. Mich interessiert, welche Aspekte für Sie ausschlaggebend für die Zugänglichkeit der Figuren waren.

      VG

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  1. Mir kam selten eine Figur derart nahe, wie Kazimira, und das, obwohl sie im Text, rein vom Umfang ihrer Auftritte her, überhaupt nicht im Vordergrund steht. Allein das zeugt von sehr starker erzählerischer Kraft.
    Ihre Einschätzung, es wirke wie eine Pflichtlektüre in der Oberstufe, hat mich sehr gewundert und entspricht nebenbei der misogynen Einordnung in der ZEIT und in der FAZ: Herren, die es nicht ertragen, dass eine Frau ziemlich genial schreiben kann (das immerhin muss die ZEIT eingestehen..) und noch dazu Ahnung von ihrem Stoff hat. So etwas wird als „lehrerinnenhaft“ usw. abgewertet. Und genau von diesen Abwertungen erzählt meines Erachtens nach der Roman. Diese Einschätzungen sind aus der Perspektive wirklich interessant, erzählen sie doch den Roman im Grunde weiter…

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