Ein Haushalt in der faschistischen Provinz – Zora del Buono: Die Marschallin

Von Matti Borchert

Als „Zeitalter der Extreme“ hat der Historiker Eric Hobsbawm bekanntermaßen die Geschichte des 20. Jahrhunderts überschrieben. Kriege, Diktaturen, Terrorregime und Menschheitsverbrechen sondergleichen bildeten das historische Gerüst des letzten Jahrhunderts. Gebaut wie gelitten daran hat der Mensch. Ausschnitte des Menschseins in Ausnahmesituationen zu zeigen, ist immer schon ureigenes Anliegen der Literatur. Zora del Buono eröffnet mit ihrem neuen Roman ‚Die Marschallin‘ nun eine weitere Perspektive auf jene Extremzeit, indem sie das Leben ihrer gleichnamigen Großmutter in Süditalien vor, während und nach dem 2. Weltkrieg ins Bild rückt. Der Roman versteht sich dabei als Doppelportrait von Epoche und Mensch: Am subjektiven Empfinden und Erfahren der Figur soll jene Zeit eingefangen werden. Doch sind Hauptfigur und ihre Umwelt überzeugend in Szene gesetzt?

Zora ist die von der Erzählinstanz vorgestellte Matriarchin einer slowenisch-italienischen Familie in der süditalienischen Stadt Bari um die Mitte des 20. Jahrhunderts. Durch unterschiedliche Jahre hindurch, an verschiedenen Orten und aus wechselnden Perspektiven verfolgen Leserin und Leser episodenhaft Zoras Denken und Handeln. Aufgrund ihrer Rigorosität und ihrer Bigotterie ist die Hauptfigur allerdings nicht immer ganz leicht zu ertragen. Sie ist distanziert und berechnend zu den Kindern. Noch im Erwachsenenalter bevormundet sie die Söhne etwa in der Partnerwahl. Aus Neid und Paranoia ist sie gnadenlos gegenüber allen Frauen. Das weibliche Dienstpersonal behandelt sie überwiegend verächtlich. Den Schwiegertöchtern und Schwägerinnen gegenüber ist sie herabwürdigend. Eine dieser Frauen entlässt sie einmal aus der Familie samt Kind ins Gefangenenlager nach El-Shatt, nur um sie später mit prätentiöser Geste zurückzuholen.

Anerkennendes und würdigendes Miteinander ist die Sache Zoras nicht. Sie polarisiert, wo es geht. Dazu trägt auch ihre ostentative Politisierung im Alltag bei. Zora ist Kommunistin. Angesichts ihres Reichtums hat sie aber mit Kommunismus und Sozialismus so viel zu tun wie Mussolini mit der Gewaltenteilung. Sie ist vielmehr die wohlhabende und joviale Aristokratin, die mehr Wert auf Colliers und römisches Interieur legt, als darum bemüht zu sein, die Ideen ihrer Weltanschauung auch wirklich umzusetzen oder vorzuleben. Im Faschismus lässt es sich leben. Zur Selbstrechtfertigung führt sie ins Feld, dass Kommunismus Aristokratie für alle sei und die Sache der Frauen stärke. An ihrer Aristokratie teilhaben lässt sie die Menschen aber nur hier und dort durch milde Gaben.

Konträr zu ihrem gewollt selbstbestimmten, aber vor allem selbstgerechten Auftreten steht der unsichere und passive Umgang mit ihrem Ehemann Pietro. Er kann sie nach Gutdünken über den Sommer zurück in ihren slowenischen Heimatort Bovec schicken. Die Buchführung seiner über Italien hinaus bekannten radiologischen Praxis traut er ihr eigentlich bis zum Schluss nicht zu. Insgeheim bewundert Pietro seine frühere Berliner Kollegin Dr. Bloch. Um wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Mannes zu erlangen, weiß sich Zora nur mit Schwangerschaften zu helfen. Auf politischem Feld bleibt sie ganz wirkungslos. Über das Wort kommt sie nicht hinaus. Ihre ambitionierteste Absicht, den Partisanen in Jugoslawien Medikamente zu verschaffen, endet wohl schon in Triest. Eigentlich ist Zora nur in einem Metier richtig zu Hause: der Planung und Ausstattung des eigenen Palazzo in Bari.

Gegen den inkonsequenten Charakter der Figur ist freilich nichts einzuwenden. Unsere Wertmaßstäbe müssen keineswegs mit denen der entworfenen historischen Welt korrespondieren; und schon gar nicht muss man seine eigenen Normen im Wertekanon einer Romanwelt gespiegelt finden. Die Alteritätserfahrung ist wesentlicher Mehrwert der Literatur. Womöglich ist hier ja ganz charakteristisch das gegensätzliche Bild einer Frau in den sozialen Verhältnissen jener Zeit getroffen; vielleicht als Ergebnis einer gesellschaftlich extrem polarisierten wie patriarchalischen Welt, in der sie um Handlungsspielraum und Geltung ringt.

Was als Ambivalenz für die Gestaltung der Hauptfigur noch recht plastisch funktionieren mag, gerät jedoch in der Gesamtkomposition des Erzählens mitunter sehr diffus. In penetranter Weise betont die Erzählerin, wie charakterstark, geistreich und bewundernswert Zora gewesen sei. Dabei ist die Figur dauerbeleidigt, egoistisch und heuchlerisch. Sie besitzt zuweilen einen läppischen, stereotypen Weltzugriff, der sich häufig in klischeehafter Sprache Bahn bricht; etwa dann, wenn sie ihren homosexuellen Bruder als „warmen Bruder“ bezeichnet oder Dr. Bloch wegen ihrer Ehelosigkeit verurteilt. Beides hat man auch in den 30er und 40er Jahren schon differenzierter betrachtet. In der hier auffälligen Dissonanz scheint sich eher der Wunsch der Erzählerin nach der starken und vorbildhaften Großmutter zu äußern, der aber von der eigentlichen Darstellung konsequent desavouiert wird.

Dazu reihen sich weitere Konstruktionsschwächen. Alles folgt hier einem Muster des Irgendwie. Wenn sich die Figuren nicht selbst widersprechen, relativiert die Erzählerin im Nachgang deren Denken und Handeln. Angesichts der entdeckten Homosexualität ihres Bruders habe Zora berechtigte politische Sorgen. „Waren es überhaupt Sorgen?“, hakt die Erzählerin schulterzuckend ein. Im Grunde ekelt sich Zora vor ihm. Wie man überhaupt durch die Mussolini-Jahre gekommen sei, könne sich keiner aus der Familie wirklich erklären. Ist auch egal. Hauptsache: Anwesen und Auftreten machen Eindruck. Gleicherweise unscharf gezeichnet bleiben die Randfiguren: Als die Tante Otilija in Bovec aus Angst vor den Deutschen von Zoras Schwägerin Pepca ein Sprechverbot erhält, ist sie erst beleidigt, um dann von der Erzählerin in den Kopf gelegt zu bekommen: „Andererseits war Pepca äußerst liebenswürdig, also nahm Otilija ihr das Verbot nicht ernstlich übel, […].“

Wenn jede Kontur einer Figur schon im Folgesatz verwischt wird, läuft die beabsichtigte ambivalente Figurengestaltung letztendlich Gefahr, gar keine Spannungszustände mehr zu erzeugen. Und so sind die Figuren denn auch überhaupt nur schwer voneinander zu unterscheiden. Ob nun aus der Sicht einer Schwägerin, einer Schwiegertochter oder des Bruders erzählt wird, sie alle denken und fühlen irgendwie das Gleiche: Ein Gipfel erklimmt die mangelhafte Figurenzeichnung etwa in Manfredis Bewunderung eines Kleides seiner Mutter, das ihn unterwegs mit einer jungen Frau gedanklich ganz fortreißt. Fast alle Figuren reproduzieren die floskelhafte Sprache Zoras, wenn sie ihre Welt mitunter gar nicht recht oder nur mit denselben auf Äußerlichkeit und Sozialstatus bedachten Kategorien beurteilen können. Infolge dieser Einförmigkeit geht auch der lohnende Versuch nicht auf, von Zora kapitelweise aus veränderten Blickwinkeln der Figuren zu erzählen. Es eröffnet sich keine neue Sicht.

Einige Passagen des Romans fangen das faschistisch-kommunistische Süditalien und die spannungsgeladene Atmosphäre des „Zeitalters der Extreme“ in Süd- und Südosteuropa aber durchaus ein. Insbesondere die illustren und leicht ironisch erzählten Anekdoten um Antonio Gramsci, Mitbegründer der kommunistischen Partei in Italien, und Tito, Partisanenführer und Autokrat, die immer wieder in Berührung mit der Familie Del Buono treten, faszinieren aufgrund der Darstellung menschlicher Windungen und Wandlungen zwischen Mussolini und Stalin, aufgrund ihres Auslotens von Zufall und Zwangsläufigkeit. Von dieser erzählerischen Durchdringung des Stoffes und von diesem Ton hätte der Roman mehr gebraucht.

„Alles war so vorhersehbar“, denkt Zora einmal bei Betrachtung ihrer Kinder. Das gilt mit Ausnahmen nicht weniger bei der Lektüre dieses Romans, der im Ganzen redundant, inhaltlich eintönig und sprachlich seicht daher schlingert. Weil die Literaturkritik trotz intersubjektiver Standards am Ende des Tages in seiner Herangehensweise und Gewichtung aber ein subjektives Unterfangen bleibt, fällen viele Besprechungen ein anderes Urteil. Sie übernehmen die Sprache der Erzählerin und loben den Text für seine „lebenssatten“ Figuren. Und so sieht man als Folge schon den ARD-Dreiteiler am Horizont heraufziehen, der uns mit leidlich bekanntem Schauspielerensemble den ganzen Roman wohl in genauso müder Weise auch nochmal als Film aufs Auge drücken wird.


Zora del Buono: Die Marschallin
C.H. Beck 2020
382 Seiten / 24 Euro

Foto: suesun / pixabay.com

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