Das Leben der Anderen – Charlotte Gneuß: Gittersee

Von Emilia Keller

Was trennt uns noch voneinander nach bald 34 Jahren Einheit? Charlotte Gneuß lässt als Nachgeborene eine untergegangene Welt wiederauferstehen. Unsere Rezensentin ist fasziniert von der Fremdartigkeit der Erfahrungen und dem rasanten Stil der Debütantin.

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Vielleicht müsste man mal hinfahren. Um zu sehen, was noch da ist, von dem, was man da liest. Bestimmt wäre alles anders, als man es sich nach dem Lesen von Gittersee vorgestellt hat. Wie es wohl Charlotte Gneuß ging, als sie dort war? 

Gittersee ist ein Stadtteil im Süden von Dresden und zugleich das Romandebut einer Frau, die so alt ist wie ich und nicht aus Sachsen, sondern aus Baden-Württemberg kommt. In ihrem Buch erzählt die Autorin vom Leben einer jungen Frau in der DDR, von einem untergegangenen System, von Verrat und Erpressbarkeit. Aber auch von Normalität, Liebe und alltäglichen Verpflichtungen. Das ist so interessant, weil die ostdeutsche Geschichte zwischen 1949 und 1989 keineswegs abgeschlossen, sondern lebendiges Erbe vieler Menschen in Deutschland ist, die in dieser Zeit geboren und aufgewachsen sind. Insofern ist Gittersee ein Roman über Vergangenes, ein untergegangenes System nämlich, über perfiden Verrat und die staatlich organisierte Unterwanderung des Privaten. Zugleich schreibt Gneuß über das normale Leben, übers Erwachsenwerden und das Verliebtsein, über Konkurrenz und Zukunftsfragen – überzeitliche Aspekte des Lebens. 

Karin ist die Protagonistin des Romans. Sie ist 16, Schülerin und schwer verliebt in Paul. Auch sonst ist ihr Leben wohl das, was sich als normal und zufrieden beschreiben lässt. Unbedarft sogar und weitgehend unberührt vom politischen Apparat des Regimes erscheint es. Als Paul klettern fahren will und nicht wiederkommt, politisiert sich die Geschichte – vermutete Republikflucht. Offene und verdeckte Befragungen schleichen sich in Karins Leben und das ihrer Familie. Polizeibesuche zu Haus und Gerede hinter vorgehaltener Hand. Plötzlich dreht sich Karins Alltag, wendet sich ihr Blick auf die sie umgebenden Menschen und Umstände. Karins Mutter wird „alles zu viel“, sie verlässt die Familie. Karin, viel zu klug, um noch so jung zu sein, viel zu schlagfertig, um nicht zu beeindrucken und so cool, dass man es fast nicht aushält, schmeißt den Laden. Sie übernimmt Verantwortung für ihre kleine Schwester, kompensiert die Antriebslosigkeit ihres Vaters und trotzt, wo es geht, der ruppigen Großmutter. Schnell wird klar: Es geht um sehr viel mehr als um eine junge Frau, die in einen jungen Kerl verliebt ist. Es geht um Freund*innenschaft, um Körperlichkeit und um zu viel Verantwortung.

Gneuß erzählt all das ohne spürbares Kalkül der Überführung einzelner Figuren als Verräter*innen oder Inszenierung als Opfer. Vielmehr gibt sie Lesenden den Raum, sich selbst ein Bild zu machen, denen Schuld und Verantwortung zuzuschreiben, die es nach eigenem Dafürhalten verdienen, oder davon Abstand zu nehmen. Scheinbar zufällig trifft Karin auf Wickwalz, einen Stasi-Agenten mittleren Alters. Er wirkt erwachsen, kontrolliert und vertrauenswürdig. Dessen viele Fragen vermitteln Karin das Gefühl, gesehen und ernstgenommen zu werden und so lässt sie zu, dass er sich in ihr Leben fragt. 

Genau darin liegt die erzählerische Stärke des Buches. Gneuß zeigt das Subversive am DDR-Staat, mehr noch, am menschlichen Verhalten. Sie erzählt vom entwürdigenden Akt des unbewussten und aufgezwungenen Verrats. Freundschaft – echte, erfundene und falsch verstandene – und die Unmöglichkeit, sich von Geschehenem zu entfernen oder zu befreien sind die Treiber des Romans. Es geht auch um Fragen von Verantwortung und Schuld: Ist Karin alt genug, um die ihr aufgetragene Verantwortung zu stemmen, um Schuld auf sich zu laden? 

Geistreich ist Karin und ist auch Charlotte Gneuß: Sie lässt Karin mit Worten spielen, dreht sie sich und anderen im Mund herum und wird niemals gefühlig, außer, wenn die kleine Schwester im Spiel ist. Die ist ein „Kakadu“, ein „Krümel“, ein „Kringel“ und ein „Goldgefunkel“ – es spricht eine so reizende und große Liebe aus der Art, wie die große mit der kleinen Schwester spricht.  

Das Tempo ist hoch, die Ereignisse verdichtet, sodass man zwischendurch um Luft ringt. Charlotte Gneuß erzählt unprätentiös und klar, nutzt Alltagssprache und fragmentierte Hinweise auf Lokalakzente, ohne sich der Kritik sprachlicher Aneignung auszusetzen. Fragen nach Authentizität sind out, Gottseidank, und trotzdem fragt man sich, wie eine ein so klares Bild von einer Ordnung zeichnen kann, die sie selbst nicht erlebt hat. Dass Gneuß‘ Mutter selbst aus Dresden stammt, könnte hier eine Rolle spielen.

An diesem Punkt, allerspätestens, merkt die Leserin, die hier schreibt, dass sie eben keine Verwandtschaft hat, die in der DDR aufwuchs. Dass sie mit dreißig Jahren erstaunlich wenig darüber sagen kann, wie dieses Regime funktionierte und noch weniger darüber, wie es sich angefühlt haben muss, in dieser Ordnung zu leben.

Was Gneuß erzeugt, ist eine Stimmung: Der Muff, den stundenlanges im Auto sitzen und rauchen erzeugt, das Grau, das dieser aalglatte Wickwalz verbreitet, und die latente Bedrohung, die von ihm ausgeht: Weil er ein Mann ist und außerdem einer des Staates, weil er Karin ständig findet, und weil er sich seiner Sache so sicher zu sein scheint. Es gruselt eine und man fragt sich, welche Rolle solche Stimmungen gespielt haben mögen im Leben sechzehnjähriger DDR-Bürgerinnen in einem Vorort von Dresden. 

Den Roman habe ich atemlos gelesen habe und so schnell, wie wenige andere. Ein Buch, das nachwirkt in mir und die Befürchtung auslöst, ich könnte mich gerade frech am Stil seiner Autorin bedienen. Das großartige an dieser Erzählung ist, dass sie Vergangenes und Bestehendes so vermischt, dass man gar nicht umhin kann, sich zu fragen, welche Erfahrungen eigentlich systembedingt und welche menschenbedingt sind. Gittersee ist ein absolut lesenswerter, fulminanter, hochspannender und einfühlsamer Roman.


Charlotte Gneuß: Gittersee
S. Fischer 2023
240 Seiten / 22 Euro

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Foto: bocux / pixabay.com

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