„Und wahrscheinlich haben alle ihre Dschinns“ – Fatma Aydemir: Dschinns

Von Stefanie Schien

In ihrem zweiten Roman erzählt die Autorin die Geschichte einer deutschtürkischen und -kurdischen Familie, die über den plötzlichen Tod des Vaters Hüseyins in Istanbul zusammenkommt. Im Gepäck haben sie nicht nur ihre Trauer, sondern auch widersprüchliche Gefühle, Fragen und Unausgesprochenes; kurzum ihre eigenen und die Dschinns der anderen.

Dramatischer Auftakt des Romans ist der plötzliche Tod Hüseyin Yilmaz, in einem Moment, der eigentlich ein freudiger Neuanfang sein sollte: Im August 1999 steht Hüseyin in der lang ersparten Eigentumswohnung in Istanbul. Er freut sich darauf, sie seiner Frau Emine und seinen Kindern zu zeigen. Ausgestattet mit allen Annehmlichkeiten, verkörpert die Wohnung den Traum von einem Leben, für den er über drei Jahrzehnte hart und entbehrungsreich im kalten und herzlosen Deutschland schuftete. Nun soll die Rückkehr in die Türkei den wohlverdienten Ruhestand einläuten. Doch dazu kommt es nicht. Er verstirbt unerwartet an einem Herzinfarkt.

Das schmerzliche Ereignis löst bei allen Familienmitgliedern neben Trauer noch eine ganze Reihe anderer Emotionen und Reflektionen aus, die Aydemir in den fünf weiteren, nach den Familienmitgliedern benannten Kapiteln, jeweils aus der Perspektive dieser Person erzählt. 

Ümit, der jüngste Sohn, trägt sich mit einem schlechten Gewissen, weil ihm statt der Trauer um den Vater die Ablehnung von Jonas, Mitglied seiner Fußballmannschaft, auf seinen Annäherungsversuch durch den Kopf gehen. Eine Liebe, die im Weltbild seines Vaters keinen Platz gehabt hätte. Seine älteste Schwester Sevda, Überlebende eines fremdenfeindlichen Brandanschlags, hingegen ringt mit ihren Gefühlen, nachdem sie den Kontakt zu ihren Eltern über Jahre abgebrochen hatte. 

Peri, die nach dem Abitur möglichst schnell zum Studium nach Frankfurt zog, um Abstand zwischen sich, die deutsche Kleinstadt, in der sie aufwuchs, und ihre Familie zu bringen, denkt über das Familiensystem nach, in dessen Schwere sie etwas Unausgesprochenes und die Depression ihrer Mutter erahnt. Der älteste Sohn Hakan erkennt in seinem eigenen, teils kriminellen Verhalten eine Art unausweichliche Ablehnung der Unterwürfigkeit seines Vaters gegen deutsche Behörden und rassistische Anfeindungen. 

Zuletzt gedenkt Emine, die seit ihrem 16. Lebensjahr mit Hüseyin verheiratet war, des gemeinsamen Lebens mit Höhen und Tiefen, der Entbehrungen und des Leids, welche nicht nur die Beziehung zu ihrem Mann, sondern auch zu ihren Kindern und zu sich selbst geprägt haben. 

Erzählerisch vermittelt Aydemir das Geschehen, das insgesamt nicht mehr als 48 Stunden umfasst, durch einen Wechsel zwischen Gegenwartsbeschreibungen und Rückblenden aus der Perspektive der jeweiligen Charaktere, die einander zunehmend ergänzen und sich schließlich zu einer Auflösung verdichten. Dabei bemüht sie sich, jeder/m eine eigene Stimme zu geben, wobei die der Frauen stärker und überzeugender wirken als die der Männer. Die weiblichen Charaktere scheinen mehrdimensionaler im Erlebten zu sein, während die männlichen über einen Kernkonflikt definiert sind, als deren Stellvertreter sie erscheinen: Ümits Homosexualität und Hakans Auflehnung gegen die fremdenfeindliche deutsche Gesellschaft. 

Insgesamt werden überhaupt viele gesellschaftliche Themen angeschnitten, die in den 1990er -Jahren vermutlich in Deutschland nicht in dieser Form benannt worden wären, sondern eher von aktuelleren Diskursen zeugen: Homophobie, Ausbeutung von Migrant_innen, Deutschsein und die mehrgenerationale Wirkung von Migration und ethnischen Konflikten, Geschlechterrollen und -identitäten, Patriarchalismus, Klassismus und Rassismus. Dadurch hat Aydemirs Erzählung einerseits etwas Dichtes und Beklemmendes, weil diese die Verwerfungen, die die Charaktere in ihrem Leid und Schmerz voneinander isolieren und doch gleichzeitig auch wieder aneinanderbinden, klar und nachvollziehbar konstatiert, ohne dabei anprangernd zu sein. Andererseits werden nicht alle angeschnittenen Motive vertieft oder aus dem Geschehen heraus vermittelt, sondern eher von den Charakteren beschrieben. Das kann man mögen oder nicht, ist aber vielleicht literarisch nicht die eleganteste Form.

Auch wenn der Text damit vielleicht nicht alles einlösen kann, was dieser zunächst in Aussicht stellt, ist die Erzählung über weite Strecken mitreißend und von einer Dringlichkeit gezeichnet, die vergessen lässt, dass die Geschichte eigentlich vor über zwanzig Jahren spielt. Jede und jeder, so beobachtet Peri, hat wohl Dschinns. In der Form von gesellschaftlichen Phänomenen sind diese isolierend und kollektivierend zugleich. Dass gilt für die Familie Yilmaz im Roman ebenso wie – auch das steckt in Aydemirs Werk als Zeitdokument – für unsere Gegenwart.

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Fatma Aydemir: Dschinns
Hanser 2022
366 Seiten / 24 Euro

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Foto: umutizgi / pixabay.com

3 Kommentare zu „„Und wahrscheinlich haben alle ihre Dschinns“ – Fatma Aydemir: Dschinns

  1. Ich habe den Roman gerne gelesen. Ich fand ihn etwas überladen mit Themen, insbesondere zum Ende hin, und teile die Ansicht, dass die Integration dieser Diskurse etwas abstrakt vollzogen wurde. Ich hatte das Gefühl, sie wären einfach wie bei einem Mixtape drübergelegt worden, dennoch hat mich die Intensität sehr überzeugt. Der Stil besitzt eine sehr eigene Stimmungslage, die mich auf weitere Bücher der Autorin neugierig gemacht hat.

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  2. Ich stimme der Rezension vollkommen zu. Ich möchte aber noch betonen, dass die Tatsache, dass der Vater Kurde ist, eine große Rolle spielt. Denn er versucht nicht nur eine Heimat in Deutschland zu finden, sondern auch der Gefahrensituation zu entkommmen, in der türkischen Armee gegen sein Volk gekämpft zu haben. Seine Kinder erfahren auch erst jetzt, dass sie auch kurdische Wurzeln haben. Jetzt kann man auch Peris Verhalten besser verstehen. Nachzulesen hier: https://mittelhaus.com/2022/11/24/fatma-aydemir-dschinns/

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