Spät dran und immer noch paternalistisch – Götz Aly: Das Prachtboot

Von Stefanie Schien

Pünktlich zur Eröffnung des umstrittenen Humboldt-Forums im rekonstruierten Berliner Stadtschloss begibt sich der renommierte Politikwissenschaftler, NS-Historiker und Journalist Götz Aly auf fremdes Terrain und untersucht in seinem neuen Buch Das Prachtboot die Geschichte des deutschen Kolonialismus und musealer Sammlungen in der Südsee. Das Ergebnis überrascht. Leider.

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Dreh- und Angelpunkt des Buches ist eben jenes im Titel erwähnte hochseetüchtige und reichverzierte Auslegerboot von der Insel Luf, das bereits als Highlight im Ethnologischen Museum in Dahlem zu sehen war und zuletzt medienwirksam inszeniert in die neueingerichtete ethnographische Dauerausstellung des Humboldt-Forums eingezogen ist. An diesem erläutert Aly exemplarisch wie Deutsche sich während der Kolonialzeit in Ozeanien Land, Ressourcen, Menschen und eben auch Dinge aneigneten. Im Untertitel „Wie Deutsche Kunstschätze in der Südsee raubten“ deutet Aly auch gleich seine Hauptthese an: Das Schiff, sowie seiner Meinung nach der Großteil ethnologischer Sammlungen aus der Südsee, wurde geraubt und muss als Raubkunst behandelt werden.

Um zu diesen Forderungen zu gelangen, zeichnet er in 12 Kapiteln zunächst ein weitreichendes Bild von den deutschen Kolonisatoren in der Südsee, die erst durch Handelsniederlassungen, Missionsstationen und schließlich auch militärisch, oft mittels brachialer und ausufernder Gewalt, die lokale Bevölkerung unterwarfen. In diesem Zuge, so stellt Aly ebenso dar, wurde gezielt auch für Museen gesammelt und mit Artefakten Handel betrieben. Immer wieder alterniert er zwischen der Darstellung der allgemeinen Zustände und Strukturen, die er gern auch an der nach seinem Urgroßonkel benannten Insel Aly (heute Siar) verdeutlicht, einzelnen, aus seiner Sicht paradigmatischen Akteuren zum Thema ethnologische Sammlungen, sowie den Umständen der Beschaffung des Auslegerboots. 

Letzteres wurde dem damaligen Königlichen Museum für Völkerkunde in Berlin 1904 von Eduard Hernsheim, Inhaber der in den Südsee-Kolonien aktiven Handelsfirma Hernsheim & Co. verkauft, nachdem es bereits einige Jahre vollendet, aber ungenutzt in einem Bootshaus gestanden hatte. Alys Argumentation, es handle sich hierbei um Raub, hängt sich an einer Formulierung in Hernheims Lebenserinnerungen auf: „Das letzte dieser Fahrzeuge, das der aussterbende Stamm [sic] noch hatte herstellen können, ging später in meine Hände über und ziert jetzt das Völkerkundemuseum in Berlin.“ Diese unkonkrete Formulierung führt zu Alys zentralem Schluss: „Es wurde schlicht enteignet, einer […] gnadenlos dezimierten Inselbevölkerung einfach weggenommen.“ Als Ursache hierfür führt er zwei, 20 Jahre zurückliegende Strafexpeditionen auf den Hermit-Inseln an, zu denen auch Luf gehört, bei der die kaiserliche Marine die Bevölkerung beschossen und Häuser, Felder, Boote verbrannten – also die Lebensgrundlage der Insulaner*innen gezielt zerstört wurde. Davon, so Aly, habe sich die Bevölkerung nie erholt. Da sich die „dezimierten“ Luf-Leuten nicht mehr zur Wehr setzen konnten, sei es dann von Hernsheim geraubt worden.

Alys Problem ist allerdings, dass es für diesen Akt des Raubs letztlich keine konkreten Beweise gibt, weder die Eingangsinformation des Museums, Hernheims eigene Zeugnisse (oder gar Geständnisse) oder die Beschreibung der zeitgenössischen Beobachter können diese Lücke wirklich schließen. Weil dem so ist, umkleidet der Autor die Lücke mit einer Fülle von teils willkürlich ausgewählt wirkenden Berichten der kolonialen Gräueltaten in der Südsee allgemein, Schilderungen der Insel Luf, des Boots sowie mit einem Sammelsurium an Darstellungen von Sammlungspraktiken der Deutschen in der Südsee. Mittels der häufigen Wechsel konstruiert Aly eher eine Atmosphäre als eine historische konsistente oder stringente Darstellung; eine Stimmung, in der seine Schlussfolgerung für die Lesenden folgerichtig sein muss.

Zwar ist Das Prachtboot offensichtlich nicht an eine Fachöffentichkeit gerichtet, aber auch für ein populärwissenschaftliches Sachbuch ist es dadurch polemisch und mindestens inakkurat, wenn nicht desinformierend. Expert*innen wie Jakob Anderhandt, der eine mehrbändige Biographie von Eduard Hernsheim veröffentlicht hat, und Brigitta Hauser-Schäublin, die jahrzehntelang die Professur für Allgemeine Ethnologie und Ozeanistik an der Universität Göttingen innehatte, stellen verschiedene Probleme fest. 

Anderhandt (erscheint im November in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte) beispielsweise verweist auf Auslassungen von gewaltsamen Übergriffen der Hermit-Leute, die den Strafexpeditionen vorangegangen waren und die die Reaktionen Hernsheims und seiner Mitstreiter zwar nicht rechtfertigen, aber zumindest kontextualisieren. Hauser-Schäublin benennt eine Reihe von Aspekten, die für eine einvernehmliche Abgabe des Auslegerboots sprechen, unter anderem, dass das Oberhaupt der Luf, für den es gebaut worden war, vor dessen rituellen Einweihung verstarb und eine Weiternutzung daher für die Luf-Leute nicht denkbar gewesen wäre. 

Während die ethnologischen Kenntnisse, die solch eine Einordnung voraussetzen, nicht von Aly erwartet werden können, ist es fragwürdig, wieso der Historiker gerade diejenigen Ereignisse aus den Lebensaufzeichnungen Hernsheim nicht erwähnt, die seine Argumentation schwächen. Die Liste der Kritik bezüglich seines Umgangs mit den Quellen könnte hier noch lange fortgeführt werden. 

Es irritiert außerdem, dass Aly suggeriert, es würde jenseits seiner Arbeit nur hier und da ein wenig kritische Forschung zu der Thematik kolonialer Sammlungen in der Ethnologie und den Museen geben, während er gleichzeitig aus Texten von Autor*innen wie Margarete Brüll zitiert, aber ihre Aufarbeitung kolonialzeitlicher Sammlungen in der gleichen Veröffentlichung nicht erwähnenswert findet.

Aber eine nuancierte Darstellung ist offenkundig nicht Alys Ziel, sondern eine Anklageschrift als Advokat der Beraubten, zu dem er sich jüngst machte. Dabei bleibt seine Darstellung der Menschen auf Luf immer hölzern, er bewundert ihr Kunsthandwerk und ihre technische Leistungen, was manchmal wie das Hauptargument seiner Fürsprecherschaft wirkt. Dadurch, dass er andere Facetten, wie ihre Wehrhaftigkeit oder politischen Dominanzbeziehungen zu umliegenden Gruppen auslässt, zeichnet er ein passives Bild der Luf-Leute, die ihr Schicksal wehrlos erfahren haben.

Dem Autor geht es, so scheint es, auch eigentlich nicht um die Bewohner Lufs oder vielleicht andere kolonialisierte Gesellschaften und deren Nachfahren, sie dienen ihm vielmehr als Spiegel für die Deutschen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Zumindest drängt sich der Eindruck auf, wenn er die umstandslose Rückgabe von menschlichen Überresten als ein Ablenkungsmanöver der Museen moniert. Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle Herkunftsgruppen, die dafür kämpfen, ihre Vorfahren bestatten und von Objekten wieder zu Menschen machen zu können. 

All diese Aspekte machen Das Prachtboot so ärgerlich, denn vielen der grundlegenden Beobachtungen Alys ist zuzustimmen: Die deutsche Kolonialgeschichte in der Südsee ist im Verhältnis zu anderen Regionen zu wenig bekannt, beziehungsweise aufgearbeitet. Eingetragene Krankheiten, Verschleppung zu Arbeitseinsätzen, Missionierung, Verbote kultureller Praktiken, rassistische Ideologien und nackte geopolitische Interessen des Deutschen Reichs haben die Gesellschaften dort schlagartig verändert; auch in der vergleichsweise kurzen Phase kolonialer Expansion des Deutschen Reichs, die gerne zur Relativierung angeführt wird, haben die Deutschen nicht weniger als andere Kolonialmächte gewütet. Diese Geschichte und auch die Sammlungspraktiken der Zeit müssen gründlich und umfassend aufgearbeitet werden. 

Aly ist daher ebenso beizupflichten, dass museale und universitäre Sammlungen transparent gemacht, Inventare und Objekte so weit wie möglich online zur Verfügung gestellt und Restitutionen offen verhandelt werden sollten. Sein Seitenhieb auf Kulturstaatsministerin Monika Grütters, wieso nicht alle Objekte online gestellt würden, ist jedoch zurückzuweisen, denn es handelt sich dabei nicht um einen Verschleierungsversuch, wie Aly meint, sondern um eine konkrete Forderung beispielsweise der Aborigine und Torres Strait-Insulaner*innen und ist auch längst etablierte Praxis der australischen Museen. Gerade mit diesen Forderungen rennt Aly mit Gebrüll offene Türen ein: Für die Aufarbeitung kolonialer Sammlungen wurde dem Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste, das sich mit der Erforschung, Rückgabe und Kompensation von Kulturgut widmet, das während des NS-Regimes und in der DDR entzogenen worden ist, eine weiter Abteilung zur Erforschung kolonialer Provenienzen hinzugefügt. 

Viele Museen haben bereits ihre Sammlungen und Inventare online veröffentlicht oder sind im Begriff, dies zu tun. Im Rahmen der Benin Dialogue Group wird die Restitution von zahlreichen Benin-Bronzen aus deutschen Museen an den Staat Nigeria verhandelt. Vieles passiert zweifelsohne zu spät, zu langsam und insgesamt sicher noch zu wenig – aber es passiert, und zwar nicht, weil Aly das Thema zufällig für sich entdeckt und ein Buch geschrieben hat. Es geschieht, weil sich Herkunftsgruppen und -staaten, postkoloniale Aktivist*innen und, Aly mag es nicht glauben, Museumsmitarbeiter*innen seit vielen Jahren dafür einsetzen. All das ist in seinem Buch jedoch völlig unsichtbar; vielmehr reklamiert er im alarmistischen und moralisierenden Ton eine Entwicklung für sich, deren Initiator*innen und treibenden Akteur*innen er gleichzeitig ignoriert und deren Arbeit er damit unsichtbar macht. Das ist aus meiner Sicht nicht zu rechtfertigen, sondern vielmehr eine paternalistische Aneignung. Wer sich für einen differenzierteren Blick auf die Entstehung der ethnologischen Sammlung in Berlin interessiert, denen sei stattdessen Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie von Glenn Penny ans Herz gelegt.

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Götz Aly: Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten
S. Fischer 2021
240 Seiten / 21 Euro

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Titelbild: Hermann Julius Meyer / commons.wikimedia.org

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