Ein Mädchen bleibt im Walde – Jessica Lind: Mama

Von Britta Mathéus

Jessica Linds Mama ist eine modernes Horrormärchen über das Muttersein. Die Erzählung verfolgt eine faszinierende Idee, die eine große Sogkraft entfaltet, auch wenn der Plan nicht immer aufgeht. Ein Buch mit Schwächen und Stärken.

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Die Fotografin Amira und ihr Partner Josef fahren für ein ruhiges Wochenende in die entlegene Waldhütte aus Josefs Kindheit. Die Beziehung ist angespannt durch das andauernde Ausbleiben der gewünschten Schwangerschaft. Umgeben vom dichten Wald verschwimmen allmählich die Grenzen der modernen Welt und sie werden verwickelt in die mythischen Verstrickungen von Naturgewalt, Magie und Irrationalität.

Mama beginnt schleichend. Um nicht zu sagen: öde. Kleinteilig und klischeegesättigt reihen sich die nur wenige Worte umfassenden Hauptsätze über Nichtigkeiten aneinander. Die Gespräche des Paares sind oberflächlich, ihre Scherze nicht lustig, ihre Gedanken langweilig. Alles ist grauenhaft stereotyp, und über allem schwebt eine künstliche Anspannung ob der Düsterkeit des Waldes, die sich vor allem aus dem unguten Bauchgefühl der Protagonistin entwickelt, die ja sowieso die gesamte Zeit über den Zustand ihres Bauches und dessen Funktionen grübelt.

Die Sprache ist so einfach, dass ein Digital Native beginnen könnte, nach dem Button fü ‚Leichte Sprache‘ zu suchen, auf den er offenbar aus Versehen geklickt hat. Auch wenn es natürlich beruhigend ist, zu lesen, dass die Protagonistin nach dem Toilettengang die Spülung betätigt, so führt die Lektüre dieses ersten Teils doch weder zu besonderem Lesevergnügen, noch zu irgendeinem neuen, noch nie gedachten Gedanken.

Die Anspielungen auf die mysteriöse, magische Kraft des Waldes und seiner Einwohner – das Märchenbuch von Josefs Vater, das die Geschichte parallel erzählt, der geheimnisvolle Wanderer, der immer wieder auftaucht – wirken künstlich und vorhersehbar. Die Passagen, in denen das Paar die sagenumwobene Lichtung sucht – und findet – sind so kitschig, dass man plötzlich selbst derjenige mit dem unguten Bauchgefühl ist.

Sind Sprache und Inhalt programmatisch, symptomatisch für die Übersetzung des Märchens in die Moderne? Sicherlich. Freude macht es dennoch nicht, sich durch die Zeilen zu quälen.

Doch just wenn man die Hoffnung aufgeben und die quälende Langeweile beenden will, kann man sich dem plötzlich entstehenden Sog desselben Buches, das man eben noch in die Ecke pfeffern wollte, nur noch schwerlich entziehen. Die Geschichte nimmt ganz allmählich an Fahrt auf und explodiert dann plötzlich in ein großes, unfassbares Rätsel.

Zunächst freut man sich noch über das, was sich erst wie eine Differenzierung der zuvor viel zu naiven, völlig verherrlichten Vorstellungen der Protagonistin über die Mutterschaft und das Elternsein anbahnt, über die nachvollziehbaren Ambivalenzen gegenüber der eigenen Rolle als Mutter, den Anforderungen und Verantwortlichkeiten.

Doch es kippt schon bald in multiple Ebenen von Realitätsverlust, Wahnvorstellung, Manipulation und Albtraum, entwickelt sich zu einem Sammelsurium verschiedener Schreckensszenarien, die Mütter um den Schlaf bringen – der Horror vor dem Fremd- und doch Einssein, der Verlust der Kontrolle über sich selbst und die Frage, ob man das Kind vor sich selbst schützen kann.

Ist es das Verwirrspiel, das rätselhafte Springen zwischen Realität und Traum, oder Realität und Alternativrealität, das so fasziniert? Oder ist es doch einfach nur der enorme Schockfaktor des gewählten Themas, das bei jedem Elternteil Alarmglocken klingeln lässt?

Völlig überraschend wird das Buch in seinem Verlauf immer, immer stärker, bis es schließlich dann in einem grandiosen und völlig unvorhersehbaren Ende mündet, das unversehens schwerwiegende Fragen aufwirft, die gerade in ihrem krassen Gegensatz zur Oberflächlichkeit des Anfangs besondere Wirkung entfalten. Es ist jenes schmerzliche Loslassen des Kindes in eine unbeherrschbare Welt, von der man nicht weiß, ob sie ihm wohlgesonnen ist, das Verlassen der Illusion, man hätte etwas unter Kontrolle, die das Buch auf bestürzende und eindrückliche Weise herauszuarbeiten vermag, eingepackt in die rätselhafte Märchenwelt des Waldes.

Diese Entwicklung des Romans ist so stark, dass man beginnt, das eigene Urteilsvermögen in Frage zu stellen. Hat man sich anfangs so getäuscht? Oder ist dieser Wandel von unendlichem Trash zu erstklassiger Literatur wirklich da? Hat sich die Sprache verändert, oder ist sie schlicht und einfach ob der spannenden Handlung und der großartigen Konzeption der Szenen nicht mehr so wichtig? Und ist das ein Merkmal von guter Literatur, oder gerade das Gegenteil davon?

Trotz all seiner zweifellos bestehenden Makel hinterlässt Mama einen Eindruck. Es hört nicht auf, einen auch weiterhin nachhaltig zu beschäftigen. Es hat eine Idee, an deren Umsetzung es oft genug hakt, aber immerhin, es hat sie und sie wird auch transportiert. Man muss dem Buch zugute halten, dass es definitiv keine Wohlfühllektüre ist, und es ist sicherlich kein seelenloses Standardprogramm. Die Autorin hat sich bei diesem Buch etwas gedacht, und trotz aller Einwände gelingt es ihr auch. Und das ist schon ganz schön bemerkenswert.

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Jessica Lind: Mama
Kremayr & Scheriau 2021
192 Seiten / 20 Euro

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Foto: Darkmoon_Art / pixabay.com

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