Ein ungewöhlich bedeckter Himmel – Timo Feldhaus: Mary Shelleys Zimmer

Von Lea Katharina Kaspar

1815 bricht der Vulkan Tambora auf Indonesien aus. Ein Jahr später liegt Europa im Dunkeln und erlebt die Folgen dieser Klimakatastrophe. Timo Feldhaus spannt das historische Panorama seines ersten Romans um die zerstörerische und zugleich schöpferische Kraft dieses Ausbruches. Sorgfältig konzipiert und quellennah werden dabei erst retrospektiv erkennbare Verbindungen zu einer Geschichte zusammengefügt, die zwischen historischer Realität und Fiktion einen den Globus umspannenden Raum ausfüllt, ohne dabei das Individuum zu verlieren.

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Ein „Who is Who“ des frühen 19. Jahrhunderts findet seinen Platz in diesem Roman. Von Goethe und Caspar David Friedrich über Napoleon zu Thomas Stamford Raffles und einer illustren Gruppe, die über Umwege in der Villa Diodati am Genfersee zusammengefunden hat. Der Blick in den durch den Vulkanausbruch veränderten Himmel ist das verbindende Glied dieser unterschiedlichen Erzählstränge. Sie handeln von ersten Augenzeugenberichten, glühenden Sonnenuntergängen, blutrotem Regen, Nationalismus und Sozialismus.

Der Gruppe junger Dichter und Autoren am Genfersee gehören nebst Lord Byron, Percy Shelley und John Polidori auch die Protagonistin, Mary Godwin, später Mary Wollstonecraft Shelley, an. Herausgefordert durch einen „Gruselgeschichten“-Schreibwettbewerb und beeinflusst durch das wörtliche sowie sprichwörtlich veränderte Klima ihrer Zeit wird ein „Monster“ geboren, das niemand mehr vergessen wird und auch heute noch jeder kennt: Frankenstein.

Der Roman geht jedoch weit über das omnipräsente Ereignis sowie die namensgebende Protagonistin hinaus. Figuren und Räume werden miteinander in Verbindung gebracht und eine auf mehreren Ebenen stattfindende, mehr oder weniger „explosionsartige Umwälzung der Welt“ wird in Dialoge und historische Momentaufnahmen eingebunden, die nicht nur die zerstörerische Kraft des Ausbruchs und seine globalen Folgen, sondern auch den Ursprung künstlerischer und wissenschaftlicher Innovation skizzieren. Globales wird dabei an individuellen Personen festgemacht, wobei in den jeweiligen Erzählsträngen eine Wechselwirkung zwischen Mikro- und Makroebene entsteht, die nicht nur interessant zu verfolgen ist, sondern auch erklärend und fassbar wirkt. Verbinden sich auf dynamische Art und Weise geografisch weit auseinanderliegende Räume, beruhen die Handlungen und Ereignisse dabei auf einer gewissen Gleichzeitigkeit. Die vermeintliche Gleichzeitigkeit wird durch erzählerische „Stolpersteine“, wie beispielsweise modernen Begriffen oder ausführenden Kommentaren zur weiteren Entwicklung einer Person oder Erfindung, aufgebrochen und ins Jetzt transportiert.

Dieser kluge Aktualitätsbezug zu Themen wie Klimawandel und Nachhaltigkeit, Feminismus oder die von Angst begleitete Neugier an wissenschaftlichem Fortschritt werden in einen historischen „Zeitgeist“ eingebunden, der so nicht einfach zu rekonstruieren ist, hier aber sorgfältig und quellennah konzipiert wird. Dies zeigt sich auch in der klaren Sprache und der nicht erkennbaren Grenze zwischen fiktiven und realen Dialogen. (Zuweilen wünscht sich die Historikerin ein klärendes Zeichen, für die Leserin spielt dies jedoch keine Rolle.)

Der übergeordnete und sich über den gesamten Roman entwickelnde Erzählstrang von Mary Godwin gibt der Leserin zwischen all den sich wechselnden Personen und Räumen Orientierung. Dabei verbinden sich vermeintlich unabhängige Orte und Personen miteinander und funktionieren in den jeweiligen Konstellationen auf neue Art und Weise. Die anfänglich jugendliche Liebe zwischen Mary Godwin und Percy Shelley und ihrer Euphorie über eine selbstbestimmte Zukunft wird durch die Verbindung zu Marys Schwester zu einer in ihrer substantiellen Existenz bedrohten Dreiecksbeziehung. Durch Schicksal und provozierte Zufälle findet das Dreiergespann am Genfersee zum „Dandy-haften“ und durchaus karikaturistisch dargestellten Lord Byron sowie den ihn begleitenden Leibarzt Polidori. Dort entwickelt sich unter dem nonkonformen und kosmopolitischen Lebensstil der Gruppe eine mitreißende Dynamik, die das vielfältige historische Klima der Frankensteinschen-Entstehungsgeschichte umfasst. Die zu Beginn voller Tatendrang und mit aufrührerischer Energie gefüllten Seiten erschöpfen sich zunehmend – der Roman profitiert davon. Eine zusätzliche, zuvor und in anderen Erzählsträngen weniger sorgfältig ausgeprägte, intime Perspektive auf Mary Shelley und ihre Begleiter wird eröffnet. Spätestens hier wird klar wie sehr der Roman zwischen Wirklichkeit und Fiktion rangiert und wie fließend diese unbemerkt ineinander fallen.

Um die progressiven Gedanken, wissenschaftlichen und romantischen Dialoge der Gruppe, den dabei immer wieder zu Verwirrung und Unstimmigkeiten sowie unbeholfenen Handlungen führenden intimen und persönlichen Beziehungen der einzelnen Personen wird ein historisches Korsett gespannt – das besonders in dieser Gruppenkonstellation wunderbar funktioniert und historisch überzeugt. Die Handlung entwickelt sich weiter, einzelne Erzählstränge trennen sich und die Figuren geben sich, wenn auch wider Willen, einem zumindest gesellschaftlich akzeptierten Lebensstil hin: „Für beide bedeutete es Verrat an vielem, woran sie glaubten, aber sie schafften es nur noch schwer, sich zu widersetzen. Unendlich viele Wahrheiten gab es, diese war so einfach.“

Da die Vorstellungskraft, zumindest was einzelne Figuren und Orte betrifft, dahingehend eingeschränkt ist, dass zu vielem schon ein geistiges Erinnerungsbild existiert, überfordert der Roman mit seinen sprunghaften Orts- und Figurenwechsel nicht. Vielmehr folgt man den Dialogen umso aufmerksamer und denkt über Angesprochenes nach. Timo Feldhaus überzeugt durch die sorgfältige Konzeption und klare Sprache seines Romans und vor allem durch die hybride Gestaltung zwischen fiktiver Erzählung und aufmerksamer Recherche, die zu einem, in sich stimmigen, Ganzen zusammengesetzt wird.

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Timo Feldhaus: Mary Shelleys Zimmer
Rowohlt 2022
267 Seiten / 22 Euro

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Foto: Lea Katharina Kaspar

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