Bohrkern des Lebens – Esther Kinsky: Rombo

Von Veit Lehmann

1976 zerstörte ein Erdbeben im italienischen Friaul dutzende Dörfer und tötete Fast 1000 Menschen. Das vorausgehende Grollen, der Rombo, verfolgt die Überlebenden bis heute. Doch wer den Roman als Bericht eines kollektiven Traumas liest, irrt.

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Esther Kinskys Werk Rombo ist ein schwieriger Roman, darin ist sich die Kritik einig. Kinsky schildert in sieben Kapiteln das Leben von sieben Menschen vor und nach dem schweren Erdbeben von 1976, das sich durch den Rombo, ein Grollen aus der Tiefe der Erde ankündigte. Eine meisterhafte Sprachpoesie einerseits, ein Mangel an Handlung in den Lebensberichten andererseits lautet der Vorwurf oder simpler ausgedrückt: schön in der Form doch ereignislos und etwas zu lang. Aber ließe sich das dem Leben nicht generell vorwerfen?

Der Irrtum beginnt bereits damit, den Roman als Schilderung eines kollektiven Erdbebentraumas lesen zu wollen. Und Kinsky trägt mit Schuld daran: 

„Am Abend des 6. Mai erschütterte ein Erdbeben die Gegend. Der Boden tut sich auf, Häuser stürzen ein, Menschen und Tiere werden unter den Trümmern begraben, die Uhren an den Kirchtürmen bleiben stehen, es ist neun Uhr, schwarze Schlangen flüchten in den Fluss, unterhalb des Gipfels des Monte Canin geht eine Wolke aus Schnee durch den Abend zu Tal […] Nach der Erschütterung zieht sich ein Riss durch die hofseitige Wand von Maras Haus, und das Fenster ist aus den Angeln geraten. Mara, die seit ihrer Rückkehr vom Sammeln das Schreien und dann das leise Wimmern der Mutter gehört hat, sperrt die Tür zur Kammer auf und führt die Mutter hinaus, die still und lächelnd und mit weißem Kalkgrus überstäubt etwas Engelhaftes hat.“

In diesem ersten Kapitel ist alles Enthalten: Christliche Metaphorik, naturwissenschaftliche Schilderung und menschliches Leid. Die kommenden Kapitel, so ist man sicher, werden sich nun in zeitlichen Blenden dem Trauma der Überlebenden widmen und die historischen Zitate aus wissenschaftlichen Abhandlungen bilden zusammen mit Kinskys Naturschilderungen ein gruseliges Hintergrundraunen, das auch den Romantitel rechtfertigt. Erinnern oder Vergessen, lauten die zwei Bewältigungsmechanismen des Menschen und als Zeitgenosse einer sich permanent therapierenden Gesellschaft kennt man auch hier den gesünderen Weg. Warum also ist der Roman nun so lang?

In tief subjektiven Berichten erzählen die inzwischen alt gewordenen Betroffenen Silvia, Olga, Mara, Anselmo, Lina, Toni und Gigi nicht nur vom Beben, sondern von ihren Leben davor und danach. Ihre Erinnerungen teilen alle dieselben Themen: Arbeit, Familie, Tradition, Leid und immer wieder Gewalt. Man fühlt sich an die dokumentarische Grausamkeit eines Werner Herzog erinnert, wenn Gigi erzählt, wie er einer Ziege bei einer schweren Geburt half und dabei im Leib der Mutter dem einen Zicklein den Nacken brechen musste, um das andere zu retten. Ihn ekelte vor seinem eigenen Arm, den er sich noch Jahre danach blutig kratzt. Doch meistens sind die Geschichten gewöhnlicher, monotoner, bloß traurig. Das Erdbeben selbst teilt nur das Leid der Menschen in ein Davor und ein Danach. Die eine große, unsagbare Gewalt, die allen gleichermaßen angetan wurde, kennt keinen Täter.

Man spürt die aufklärerische Hoffnung, mit der die Naturforscher am Anfang eines jeden Kapitels versuchen, zu ordnen und zu erklären, die Natur des Bebens zu ergründen und am Ende selbst am Rombo scheitern. Dem Menschen bleiben nur Erinnern und Vergessen. Es ist konsequent, dass Kinsky sich in einem Interview gegen die Einordnung als Nature Writer verwahrte. Es ist auch in ihren Naturbeschreibungen nichts Romantisches, Erlösendes, sondern stets das lakonische Spannungsfeld aus Autopoiesie und Naturgeworfenheit. Kinsky benutzt den Begriff des „Traumas“ übrigens kein einziges Mal, und wenn, dann müsste er bei ihr wohl mit „Leben“ übersetzt werden.

Verwundert es da, den Roman lieber als Erdbebenerzählung lesen zu wollen? Mit Rombo ist Esther Kinsky ein tiefgründiger und komplexer Roman gelungen, der tatsächlich etwas lang ist.

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Esther Kinsky: Rombo
Suhrkamp 2022
267 Seiten / 22 Euro

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Foto: Simon / pixabay.com

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