Ambitionierte Zerstörung – Silvia Tschui: Der Wod

Von Florian Wernicke

„[…] dem Wod kann man nicht entfliehen, der Wod findet einen überall, schon geht unten die Tür, es knarrt auf der Treppe […]“. Szenisch aufwändig und wuchtig mutet Silvia Tschui ihren Lesern eine Familiensaga zu, deren Protagonisten von Gewalt und Immoralität überwältigt mit dem Leben ringen. Wie ausgeliefert steht man diesem Wod und seiner Autorin gegenüber und hofft mit jeder Seite, dass einen die ungnädige norddeutsche Sagengestalt nicht selbst einholt.

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„Wann genau ist eigentlich alles so derart scheiße geworden […]?“ – darf man beim Lesen der 272 Seiten von Der Wodruhig fragen – keine Sorge, das Produkt der Autorin an sich ist von dieser Frage ausgenommen. Anders verhält es sich für ihre Figuren. Denn Silvia Tschui ist mit der Verteilung von Unglücken in der von ihr entworfenen Familiengeschichte nicht gerade geizig. In der vier Generationen umfassenden Erzählung reihen sich Enttäuschungen, Kriegsgewalt, Missbrauch und Tod auf erschütternde Weise nahtlos aneinander. Gleich zu Beginn kommt es auf einem Familiengeburtstag infolge einer spitzen Bemerkung und einer zu Bruch gehenden Schüssel mit Kartoffeln zu einer folgenschweren blutigen Auseinandersetzung zwischen dem mittlerweile betagten Brüderpaar Nis und Karl. Alles gekrönt von einem Herzinfarkt.

Grund hierfür ist ein Jahrzehnte altes Trauma. Es sind die Jahre des aufkommenden Nationalsozialismus’. In der nordostdeutschen Provinz lebt Julius. In erster Ehe zeugt der Betreiber einer Druckerei Tochter Lilli. Nach seiner Versetzung in das Reichspropagandaministerium nach Berlin heiratet er erneut und wird Vater der Brüder Nis und dem jüngeren Karl. Durch kriegsbedingte „Verschickungen“ aufs Land gelangt das Geschwisterpaar schließlich in die Obhut ihrer Halbschwester und deren Mutter Meta. Die Verbindung dieser drei Lebenswege bildet den erzählerischen Schwerpunkt des Buchs. 

Bereits als Kind begegnet Karl in Erzählungen der Mythos des Wod – eines alles vernichtenden Kriegsgottes. Die Idee dieses fürchterlichen Wesens wird ihn ein Leben lang begleiten. Karl wird Pfarrer und seine Kriegserfahrungen nicht los. Er engagiert sich in der Drogenhilfe und versucht sich daran, dem immerwährenden Schrecken des Wod zu entfliehen.

Der Wod schwebt jedoch über allen Mitgliedern der Familie. Seine Omnipräsenz erscheint beim Lesen auch als Unmöglichkeit, sich dem Leben innerhalb des eigenen Familiensystems überhaupt zu entziehen. Schnell, rabiat und voller Gewalt schlägt der Wod eine Schneise in die Leben der Menschen, über die er herfällt. Er wird ihnen für immer im Gedächtnis bleiben. 

Tschui entwirft in Der Wod keine(n) Helden. Ihr geht es um die Schonungslosigkeit des Erzählens vieler unterschiedlicher Biografien, die sich in einer Familiensaga amalgamieren. Eine Art zu schreiben, die verfängt. Mit jeder Episode steigt die selbst empfundene Beklemmung. „Jeder, der nachkommt, trägt die ganze alte Scheiße auf den Schultern und soll’s dann bitte schön richten […] Familie ist unmöglich, man muss neu anfangen, clean slate […]“. Und so kann, wer will, Tschuis Wod auch als eine Art Aufruf zum Bruch mit der eigenen aufoktroyierten Geschichte lesen und empfinden.

Der gesamte Plot ist äußerst dicht komponiert. Freimaurer, glühende helvetische Verehrer des Nationalsozialismus und von den Erlebnissen des Krieges geschundene Menschen finden ihren Platz darin. Die indirekte Erzählperspektive wird von Tschui mit Elementen des Platt- und Schweizerdeutschen verwoben, was die geografischen Verzweigungen widerspiegelt. Und das wirkt. Ihre Charaktere, die nur als Kollektiv die Geschichte tragen – auch, da ihre jeweiligen Erzählperspektiven die für die Ganzheit der Erzählung wichtigen Fragmente liefern – werden so in ihrem jeweiligen Temperament und ihren Emotionen pointiert dargestellt. Tschui lässt zeitliche und erzählerische Perspektiven in einfachen Satzumbrüchen miteinander fusionieren und fügt so die anfangs noch etwas lose wirkenden Erzählfragmente mit fortschreitendem Lesen flüssig zu einem konsistenten Ganzen. Eine originelle Erzählweise, ganz ohne wahrnehmbare logische Brüche. Ein Beispiel:

„,Erzähl mal von deinem Vater‘, bittet Charlotte ihn, ‚und erzähl von der Lilli von früher, ich vermiss sie so furchtbar.‘ und so findet sich Charlotte eine halbe Stunde später mitten im Krieg, mitten

in der Nacht weckt die Mutter den Karl, der Nis steht schon daneben. ‚Schsch‘, macht die Mutter, sie flüstert […]“.

Der Wod ist ein ambitioniertes Projekt. Spannend erzählt, klug konzeptioniert und schnörkellos. Dennoch mutet Tschui ihren Lesern eine Menge zu: Freimaurer, Kriegstraumata, Hells Angels, Intrigen und innerfamiliäre Tragödien finden etwas wenig Raum, um sich ausdrucksreich zwischen den hierfür doch recht wenigen Seiten zu entfalten. Teile des Romans erinnern zudem an den Film Eyes wide shut bzw. Schnitzlers Traumnovelle. Etwas mehr Luft hätte dem Wod sicher gutgetan.

Dennoch, dieses Buch frisst man am besten artgerecht – gleich dem Wod – roh mit Haaren und am Stück! Es lohnt sich.

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Silvia Tschui: Der Wod
Rowohlt Hundertaugen 2021
272 Seiten / 22 Euro

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Foto: stheaker / pixabay.com

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