Die Liebe, ihre Wahrheiten und ihre Lügen – Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit

Von Marlene Münßinger

Şeyda Kurt stellt die Liebe in Frage. Das klingt groß für 200 Seiten, doch das herausragende Debüt ist perfekt. Die Aufmerksamkeit, die es gerade bekommt, ist mehr als verdient. Şeyda Kurt macht klar: Wir alle brauchen eine politische Veränderung der Zärtlichkeit.

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Die Liebe in unserer Gesellschaft ist schon ein seltsames Konzept. Alles ist festgetreten und scheint klar geordnet: Eine Beziehung zwischen zwei Menschen basiert auf konventioneller Liebe. Wir gehen Verbindungen ein mit einer anderen Person, am besten, wenn sie um uns monatelang gekämpft hat und uns dabei trotzdem auch im Sturm erobert hat. Wir brauchen Schmetterlinge im Bauch und wünschen uns die Liebe auf den ersten Blick. Wir wollen Sex und Knutschen, so wie die unendlich vielen Filme es zeigen. Diese Beziehungsformen, die in den verschiedenen Medien gezeigt und besungen werden, wollen wir auch haben. Wir wollen innige und sich verpflichtende Konzeptionen. Monogamie ist die Regel, Polygamie kein „richtiges“ Beziehungsmodell, Heterosexualität die Normvorstellung der Gesellschaft, die wir nicht hinterfragen wollen. Der Mann erobert, die Frau muss sich erobern lassen. Die Geschlechtervorstellungen sind festgefahren. Consent ist vor allem etwas, was die männliche Seite bestimmt. FLINTA*-Personen meinen eigentlich ja, wenn sie nein sagen. Meist brauchen sie nur noch mehr Anstoß und Überredungskünste.

Doch was ist denn überhaupt diese Liebe in unserer Gesellschaft? Was macht eine Beziehung aus? Wieso sind gesellschaftliche Vorstellungen scheinbar klar, wenn es um romantische Beziehungen zwischen Partner*innen geht? Wieso werden patriarchale Liebes- und Beziehungskonzepte so selten hinterfragt und was passiert, wenn es getan wird? Şeyda Kurt fordert mit diesem Buch eine radikale Zärtlichkeit und zeigt, warum Liebe auf allen Ebenen politisch ist – in Verbindung mit Patriarchat, Rassismus, Heterosexismus, Sexismus und Kapitalismus.

Şeyda Kurt ist freie Journalist*in, Kolumnist*in, Buchautor*in, Kurator*in, Moderator*in und Speaker*in. 1992 in Köln geboren, studierte sie Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. Sie schreibt unter anderem für die taz oder

die ZEIT ONLINE. Ihr Buch Radikale Zärtlichkeit begann sie in der Zeit der Corona-Pandemie zu schreiben. Es ist ein Debüt, das zu Tränen rühren kann. Wahrscheinlich, weil dieses Buch es schafft, seine Leser*innen bei den gesellschaftlichen Vorstellungen der Liebe abzuholen und anschließend beginnt, diese Beziehungskonzepte anzuzweifeln. Radikale Zärtlichkeit zielt auf alle Personen in unserer durch und durch kapitalistischen Gesellschaft und deckt Probleme auf. Dieses Buch macht das Politische in der Liebe sichtbar. Şeyda Kurt gelingt es, dass sich die Lesenden mit jedem Satz und jedem Abschnitt dieses Buches so wahrgenommen und verstanden fühlen und gleichzeitig reißt sie dabei die eigenen Sichtweisen der Lesenden auseinander. 

Die Autor*in ertappt eine*n schon mit den ersten Sätzen, da aufgezeigt wird, dass Radikale Zärtlichkeit aus einer Unzufriedenheit mit der Gesellschaft entstanden ist, die uns alle etwas angeht: „Dieses Buch gründet auf einem Unbehagen. Manchmal rumort es, manchmal tobt es. Mal klagt das Unbehagen, mal schweigt es. Doch es verschwindet nie.“ Şeyda Kurt hat ihre Gedanken zur Liebe, die sie schon lange Zeit beschäftigen, in ein Buch gepackt und die Themen dabei genial miteinander verknüpft und ja: Radikale Zärtlichkeit wird gebraucht, um weiterdenken zu können, um Beziehungskonzepte für sich selbst aufbrechen zu können und um neue, von gesellschaftlichen Erwartungen freie Formen der Liebe zu entdecken.

Kurt beginnt zunächst, Probleme in unserer Gesellschaft wie zum Beispiel die tradierten, heteronormativen Rollenverständnisse aufzuzeigen. Dabei nimmt sie persönliche Beispiele, wie die Liebesbeziehung und Trennung ihrer Eltern in den Fokus. Weiter kritisiert sie, wie die westlichen Philosophien den Blick auf Beziehungen formten und bis heute beeinflussen. So baut sie darauf ihre Argumentation auf, dass die Liebe neu gedacht werden muss: wie die Verwendung von Sprache die Gesellschaft dabei beeinflusst, wie problematisch unsere Beziehungskonzepte sind und wie wichtig Freund*innenschaft in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft ist.

Dieses Buch sollten alle lesen. Mehr noch: nicht nur lesen, sondern verinnerlichen, die Unordnung und das Unbehagen spüren und damit zusammen an einer neuen, gesellschaftlichen Zärtlichkeit arbeiten. Das Kapitel mit dem Titel „Das alternative Alphabet der Zärtlichkeit“ schafft es, durch und durch zu berühren. Şeyda Kurt hilft hier bei der Artikulation von Gefühlen und erschafft eine neue Sprache der Liebe und Achtsamkeit für Partner*innen.  So steht der Buchstabe J für ja: „Ich verstehe dein Ja zu unserer Beziehung, zu unserer Körperlichkeit nicht als absolutes Zugeständnis. Ich biete dir Möglichkeiten und Gelegenheiten des Austauschs, um dein Ja zurückzuziehen. Ich versuche mit deinem Ja so behutsam umzugehen wie mit einem Katzenbaby.“ Das „alternative Alphabet der Zärtlichkeit“ sollte immer wieder gelesen werden, wenn nicht sogar noch einmal mehr.

Wir brauchen eine Gesellschaft, die alle Konzepte der Liebe gleich feiert und zulässt. Wir brauchen mehr Raum und Akzeptanz für von der Heteronormativität abweichende Beziehungsmodelle. Wir brauchen mehr Medien, Filme, Musik, die nicht immer nur heterosexuelle Liebe besingen, und bespielen. Wir brauchen Konsensaufklärungen, die den Fokus auf ein „Ja“ legen und ein „Nein“ in seiner ganzen Ehrlichkeit akzeptieren. Wir brauchen radikale Änderungen und eine Zärtlichkeit, die so radikal sein muss, dass sie etwas verändert.

Liebe ist politisch, das lässt sich nach Lesen dieses Buches in keiner Weise bestreiten. Und Politisches ist oft unbequem, so auch bei diesem Thema. Eine Auseinandersetzung muss allerdings unbedingt sein. Mit dem Lesen des herausragenden Debüts von Şeyda Kurt fängt es an, mit einer gesellschaftlichen Veränderung und einer wirklichen, von Grund auf ehrlichen, radikalen Zärtlichkeit in unserer Gesellschaft hört es hoffentlich auf.

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Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist
HarperCollins 2021
224 Seiten / 18 Euro

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Foto: 12222786 / pixabay.com

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