Die Welt als Wille und Vorahnung – Raphaela Edelbauer: DAVE

Von Florian Wernicke

„Herzlich willkommen zur finalen Tat der Menschheit“ – DAVE lautet der Name einer künstlichen Intelligenz, einer schier „endlosen kognitiven Kraft“, die nach der Vorstellung ihrer Konstrukteure die Menschheit aus ihrem selbst verschuldeten Unheil erlösen wird. In ihrem zweiten Roman lädt Raphaela Edelbauer zu einer Reise an die Grenzen des Vorstellbaren, weckt Erinnerungen an eine noch zu erfindende Zukunft und fragt danach, was der Mensch im Besitz technischer Werkzeuge erschaffen kann und sollte.

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Die Welt nach der ökologischen Katastrophe. In den Überresten dieses Unheils bevölkern Zehntausende einen gigantisch dimensionierten Betonkubus. An diesem Ort, der „das Labor“ genannt wird, steht die Entwicklung einer künstlichen Intelligenz namens DAVE im Zentrum allen Wirkens – „Drehkreuz auf, zwölf Stunden in die SCRIPTs bluten, Stechkarte raus“. In tayloristischer Genauigkeit sind alle Aktivitäten exakt spezifiziert, hierarchisch geordnet, miteinander verzahnt und unterliegen der allgegenwärtigen Kontrolle der Leitung des Komplexes, Professor Fröhlich.

Syz ist Entwickler und Programmierer. Als einer von vielen produziert er Scripts für detaillierte Programmabläufe im Innern des Supercomputers, ohne diesen bisher jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Nach einem Vorfall, der das Labor beinahe zerstört, wird er selbst für ein streng geheimes Projekt rekrutiert: DAVE soll eine Persönlichkeit erhalten, sich seiner Selbst bewusst werden können. Die Gedanken und Erinnerungen von Syz sollen in den Quellcode eingespeist werden. Die nächtlichen „Kopiersitzungen“ scheinen Erfolg zu versprechen, hinterlassen jedoch Spuren. Mehr und mehr geraten Realität und Erinnerung zu einem dystopischen Zerrbild und Syz kommt etwas Unglaublichem auf die Spur.

DAVE ist Raphaela Edelbauers zweiter und zugleich erster Roman. Zwar erschien dieser nun zwei Jahre nach ihrem Debut Das flüssige Land (2019), doch arbeitete Edelbauer bis zu dessen Erscheinen etwa 10 Jahre an ihrem aktuellen Werk. Gut so, denn DAVE ist ein rasanter, tiefgründig recherchierter und zugleich absolut aktueller Beitrag, der sich nahtlos in rezente Debatten um die Möglichkeiten und Grenzen einer sich digitalisierenden Zukunftsgesellschaft einfügt. Das Versprechen, welches von der Erschaffung von DAVE ausgeht, ist nicht weniger als die Erlösung der Menschheit von allem Leid und die Beseitigung menschlicher Fehlbarkeit, die sich in den „Impräzisionen, die auf die Schleißigkeit des Menschmaterials zurückzuführen sind“ offenbaren. „Er wird uns wie Kinder bei der Hand nehmen, beinahe wie ein Gott nur viel besser, weil es ihn wirklich gibt.“

DAVE verkörpert das Versprechen der vom Menschen selbst geschaffenen und sich eigenständig reproduzierenden Kraft, die über die Fähigkeit zu unendlicher Deduktion, unfehlbarer Rationalität und Vernunft verfügen soll – der Computer als Messias. Die Virtualisierung des eigenen Ichs ist dabei nur die letzte Stufe der Vervollkommnung und zugleich die scheinbar längst überfällige Überwindung des physischen Menschwesens. Dass es auch in unserer Welt zu einer Auslagerung des eigenen Lebens auf einen virtuellen Avatar geben könnte, lassen Entwicklungen wie das vom Facebook-Gründer Mark Zuckerberg angestrebte „Metaverse“ heute wenigstens vermuten.

Wen das Beschriebene an transhumanistische Science-Fiction erinnert, der liegt ganz richtig. Im Buch ringen konkurrierende Weltanschauungen um die ethische und praktische Legitimation des Einsatzes von DAVE. Neben den Transhumanisten, setzen „Neoterraner“ ihre Hoffnungen auf eine neuerlich bewohnbare Erde in den Supercomputer und „Neoplatumanisten“ streben den Upload des eigenen Geistes in die metaphysische Netzwelt an. Die sich hierin ankündigende und sich beim Lesen schnell aufbauende, inhaltliche Komplexität verlangt nach Struktur und Führung.

Und genau das gelingt Raphaela Edelbauer außerordentlich gut. Präzise werden relevante Theorien und Modelle eingeführt, in Beziehung zur Handlung gesetzt und immer wieder aufgegriffen. So leuchten die Ausflüge in Computer- und Science-and-Technology-Studies, Philosophie und Neuropsychologie im Verlauf der Erzählung auch dann ein, wenn sich einige davon nicht gleich beim ersten Lesen erschlossen haben. Auch erinnern die Arbeits- und Lebensbedingungen im „Labor“ an jene, die im Zusammenhang mit dem Internet-Giganten Amazon berichtet und oft unter dem Stichwort des Überwachungskapitalismus diskutiert werden.

Besonders an DAVE ist vor allem dessen sprachlich und stilistisch vielseitige Komposition. Auf den 432 Seiten liest sich kaum ein Satz wie der vorherige. Raphaela Edelbauer formuliert mit Klarheit, Genauigkeit und Kreativität. Im Angesicht einer Flut deutschsprachiger Neuerscheinungen sticht sie damit klar heraus. Auch, da DAVE keine selbstbezogene Autorenstory, sondern ein mit erzählerischem Können ausgestattetes, ganz eigenständiges Buch ist, das sich, nicht vor jenen verstecken muss, deren Autoren ein auf ein umfangreicheres Werkverzeichnis schauen. Vollkommen zu Recht erhielt die 1990 geborene Autorin in diesem Jahr den Österreichischen Buchpreis.

Wem ihr Debut-Roman bekannt ist, der erkennt in DAVE Parallelen. In beiden Büchern sehen sich isolierte Gesellschaften äußeren Bedrohungen gegenüber, die erst durch menschliches Handeln entstanden sind. Ebenso bildet in beiden Texten die unermüdliche Arbeit die Grundlage für eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Letztlich teilen sich beide Romane ihr abstraktes Verhältnis zurZeit. Genau wie in Das flüssige Land drängen in DAVE unterschiedliche Zeitdimensionen ineinander und weichen die Chronologie des Zeitempfindens ihrer Charaktere langsam auf. Die Hermetik des Labors, die sich gleichenden Aufgaben und Tage und die Auswirkungen der „Kopiersitzungen“ lassen Syz und die ihn umgebenden Ereignisse in eine Art sich selbst beschleunigende Karambolage geraten, aus der es kein Entkommen zu geben scheint.

DAVE ist nicht nur klug und informiert komponiert. Es ist ein sprachlich beeindruckendes, abwechslungsreiches, kreatives und realistisch scheinendes Werk. Ob sich dessen Vorahnungen vielleicht schon in unserer Lebenszeit bewahrheiten könnten, bleibt offen. Raphaela Edelbauer zeigt uns eine Gesellschaft, die verlernt hat, miteinander zu sprechen und voneinander zu lernen. Eine Gesellschaft, die ihre Selbstverantwortung und Hoffnung auf eine magisch-religiöse Technovision unbedingter maschineller Vernunft projiziert. „Zwischen uns allen war ein Netz aufgespannt,: Die unsichtbare Topographie von Strahlungen und Funkempfängern, die keine Sekunde schwiegen. […] stille, servile Maschinen, die wir um uns geschart hatten und die miteinander in Datenaustausch standen.“ DAVE ist eine Erinnerung an eine Zukunft, die unsere sein könnte. 

Wer übrigens wissen will, ob Raphaela Edelbauer fest im Sattel der computerwissenschaftlichen Theorie sitzt, kann sich dessen in der Video-Serie „Edelbauer erklärt“ vergewissern. Für einen von der Autorin vorgestellten Einblick in DAVElohnt ein Blick in dieses Video.

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Raphaela Edelbauer: DAVE
Klett-Cotta 2021
432 Seiten / 25 Euro

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Foto: geralt / pixabay.com

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