Bild der Frau – Jovana Reisinger: Spitzenreiterinnen

Von Larissa Plath

In ihrem zweiten Roman schickt die Autorin und Filmemacherin Jovana Reisinger ihre weiblichen Hauptfiguren durch ein Spiegelkabinett gesellschaftlicher Rollenzuschreibungen. Sie zeigt: Was es heißt, Frau zu sein, liegt zum Großteil noch immer im Auge des (männlich codierten) Betrachters.

Am Anfang und am Ende steht eine Hochzeit: „Laura kann ihr Glück kaum fassen“, heißt es im ersten Satz des Romans, als diese den in ihren Augen perfekten Heiratsantrag bekommt. Perfekt bedeutet für sie: Diamantring, Champagner, rote Rosen, der Mann auf Knien, und das in der Öffentlichkeit. „Na hoffentlich hat die sich das gut überlegt“, lautet im letzten Kapitel die nicht mehr ganz so euphorisch klingende Feststellung am Tag der Hochzeit. Dabei hat Laura die ultimative Trias aus „Eigenheim, Ehemann, Erbe“ damit schon zu zwei Dritteln erfüllt, mit etwas Glück ist auch das Erbe nicht mehr weit. In dieser Hinsicht ist ihre Freundin Verena, Erbin einer Villa am Starnberger See, schon einen Schritt weiter – „ihr Leben ist jetzt perfekt, und Laura soll das zu spüren kriegen“ (Eigenheim und Erbe auf einen Schlag wiegen mehr als nur ein Ehemann). Vieles von dem, was Jovana Reisinger in ihrem Roman thematisiert, lässt sich allein anhand der Konstellation zwischen Laura und Verena erkennen und hätte auf Romanlänge gestreckt eine kurzweilige Lektüre ergeben.

Hierbei belässt es die Autorin aber nicht, sondern präsentiert ein Ensemble aus insgesamt neun sehr unterschiedlichen weiblichen Figuren. Sie alle sind nach Frauenzeitschriften benannt – zu Laura und Verena gesellen sich Petra, Barbara, Lisa, Tina, Emma, Jolie und Brigitte – und sie alle arbeiten sich auf ganz unterschiedliche Weise daran ab, was es heißt, eine Frau zu sein. Es sind alltägliche Szenen, die sich über mehrere Monate hinweg an jeweils fünf Tagen im Leben dieser Frauen abspielen und abwechselnd in kurzen Kapiteln erzählt werden. Es geht um Freundschaft und Liebe, um das Alleinsein, um Trennung, Mutterschaft und Karriere und es geht um die Erfahrungen von alltäglichem Sexismus und häuslicher Gewalt. Wo die Frauen im Zentrum stehen, treten die Männer als anonymisierte, austauschbare Randfiguren auf, deren Namen mit ihrem Initial abgekürzt sind. Mehr erzählerischer Raum muss ihnen nicht gegeben werden, ist es doch vor allem ihr Handeln und ihr Blick auf das Weibliche, der im Leben und Denken der Frauen allzeit präsent ist. Erfahrungen, Entscheidungen und Handlungen der Frauen stehen für sich – um sie bewerten zu können, das macht der Roman deutlich, sind die Strukturen zu komplex, und es liegt an den Leser*innen, vorschnelle Urteile zu hinterfragen.

Dabei scheinen die grundlegenden Voraussetzungen innerhalb des friedlichen bayerischen Settings zu stimmen, in dem Reisinger ihre doch sehr privilegierten Figuren ansiedelt. Wer hier lebt und es sich erlauben kann nach den Regeln des „Frauengames“ zu spielen, ist in puncto Job und Beziehung auf Effizienz und Optimierung bedacht, hat sich und seine Außenwirkung unter Kontrolle. Dazu passt gar nicht, aus der Rolle zu fallen, wie es eine der Spitzenreiterinnen in einer an dramaturgischer Zuspitzung kaum zu überbietenden Szene tut: Ausgerechnet am Valentinstag sitzt Lisa umgeben von glücklichen Paaren allein in einem Restaurant, verliert über einer Etagere voller Meeresfrüchte die Fassung und wirft mit Austern um sich. „Wie peinlich, wenn Frauen ihre Emotionen nicht im Griff haben“, sind sich die anderen Gäste einig. Aber nicht nur der Blick von außen wirkt bei Reisinger als Reibungsfläche, sondern auch die weibliche Perspektive untereinander. Beziehungen zwischen Frauen bedeuten Freundschaft, Liebe, Vertrauen und Solidarität, aber auch Missgunst, Konkurrenz und internalisierten Sexismus. Am Beispiel von Laura und Verena zeigt sich, was der männliche Blick und die in der Gesellschaft verankerten Strukturen vorgeben.

Reisinger verdichtet, arbeitet mit Stereotypen und Klischees und treibt auf die Spitze. Ähnlich wie Artikel in Frauenzeitschriften lassen sich die kurzen Kapitel schnell lesen, verleiten zum Blättern und Springen zwischen den einzelnen Geschichten. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die raffinierte Erzählweise. Die aus vielen kurzen Hauptsätzen, bayerischem Dialekt und munter daherkommenden Redensarten bestehende Sprache ist zugänglich, aber sie ist auch hart, boshaft, bissig und zynisch. Wer hier eigentlich spricht, ist nie ganz klar: Erzählstimme, Figurenperspektive und eine skurrile Vermengung aus Plattitüden, Schönheitsmantras und Motivationsreden überblenden einander. Das liest sich über große Strecken amüsant, erzeugt im Grundton aber eine schmerzhafte Ernsthaftigkeit.

Dazu genügt es, sich die Dinge vor Augen zu führen, die bei aller satirischer Absicht in ihrer teilweise perversen Absurdität gar nicht zu überbieten sind: diese praktischen, erschwinglichen Prozeduren und Hilfsmittel zum Beispiel, mit denen Frauen an sich arbeiten, ihren Körper optimieren und angebliche „Mängel korrigieren“ können. „Der eigene Körper ist ja kein festgeschriebenes Schicksal mehr. Heutzutage muss niemand mehr hässlich sein“, heißt es in einem Laura-Kapitel, schließlich gibt es Waxing und Trink-Kollagen, Bodystyler und Vaginalsticks für den straffenden „Jungfrauen-Effekt“. Der Blick auf den weiblichen Körper und das damit zusammenhängende Diktat der Kosmetik- und Schönheitsindustrie ist eines der wiederkehrenden Themen Reisingers, das sie auch in ihrem Kurzfilm Beauty is Life (2020) künstlerisch umsetzt. Zehn Frauen testen in Beauty-Salon-Atmosphäre eine Reihe besagter Hilfsmittel, nachdem gleich am Anfang die „Demokratisierung der Schönheit“ versprochen wurde. Diese hat zweifellos ihren Preis.

Bei den Spitzenreiterinnen verzichtet Reisinger auf die Beschreibungen von Äußerlichkeiten und spielt so mit den optischen Erwartungen, die sich durch die vorgeprägte Namensgebung ihrer Figuren ergeben. An einigen Stellen im Roman sind kurze Abschnitte eingeschoben, die im Ratgeber-Magazin-Ton einzelne Schlagworte definieren – Haut, Haare, aber auch Solidarität – und sich in den themenspezifischen Rahmen von Frauenzeitschriften fügen. Diese mögen zwar inzwischen feministische Themen für sich entdeckt haben, was aber bei der Verfolgung dieses Trends an Substanz unter der spiegelglatten Oberfläche liegt, ist eine andere Frage. Erfahren Brigitte, Petra und Jolie und alle anderen etwas über ihre tatsächlichen Belange, wenn sie heutzutage Frauenzeitschriften lesen? „Hoffentlich schlägt jetzt die Stunde der Frauen“, heißt es am Ende von Spitzenreiterinnen. Und wenn sie nicht schlägt, ist es vielleicht noch nicht das Ende.

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Jovana Reisinger: Spitzenreiterinnen
Verbrecher 2021
264 Seiten / 22 Euro

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Foto: stevedimatteo / pixabay.com

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