Dem Abschied ins Auge blicken – Sibylle Schleicher: Die Puppenspielerin

Von Anna-Lena Deckers

Sarah und Sophie sind Zwillingsschwestern. Mittlerweile Anfang vierzig haben beide ihre eigenen kleinen Familien. Ihr Verhältnis ist seit Beginn ihres Lebens eng, vertraut und liebevoll. Die Phantasiewelt, die sie sich als Kinder erschaffen haben, bewahren sie sich auch im Erwachsenenalter: in Form von Puppentheater. Sophie schreibt die Stücke, Sarah fertigt die Puppen dazu an. Doch dann erkrankt eine der Schwestern und das eingespielte Team sieht sich einem unerbittlichen Prozess aus einander widerstrebenden Gefühlen ausgesetzt.

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Als Sarah erkrankt, beginnt für die Zwillingsschwestern Sarah und Sophie, aber auch ihre Familie(n), eine erschütternde, schmerzhafte, erschöpfende und zermürbende Reise. Für Sarah ist es die letzte Reise.

Sibylle Schleicher hat ein trauriges und niederschmetterndes Thema für ihren Roman gewählt: Krankheit und Tod einer liebenswerten Frau, die eine Zwillingsschwester, ältere Geschwister, ihre Mutter, ihr eigenes Kind einen Ehemann und viele weitere Bezugspersonen und Freunde zurücklässt. Und obwohl der Roman die entmutigende Krankheitsgeschichte, die Suche nach einer Diagnose und schließlich den Tod von Sarah erzählt, schafft er es auf erstaunliche Weise immer wieder eine trostspendende, ja fast schon erheiternde Balance herzustellen. 

Schleicher nutzt die Kunst der Literatur, um anhand des Verlusts eines geliebten Menschens die Koexistenz von Tragik und Selbstverständlichkeit im Leben abzubilden. Neben Krankheit und Tod erzählt dieser Roman von berührenden, schönen und lebensbereichernden Szenen, die sich immer wieder, im sich grundlegend veränderten Alltag der Schwestern finden lassen. Begegnungen innerhalb der Familie, die Tragfähigkeit von Geschwisterliebe, unbeschwerte Momente mit Freunden, oder gemeinsame Kindheitserinnerungen der Schwestern schenken sowohl Sarah als auch Sophie Kraft: „Die alten Geschichten aufwärmen, denke ich. Eigentlich wärmen nicht wir sie auf, sondern sie uns. Sie haben noch so eine Kraft. Lebendige Erinnerung, egal wie nah sie an der Wahrheit liegen“. 

Der Leser wird von Sibylle Schleichers Ich-Erzählerin Sophie mit auf eine Reise genommen, die ab Seite eins tragisch ist und gleichzeitig Alltägliches beschreibt – immer in der gegenwärtigen Wahrnehmung Sophies. Bis hin zum Moment, in dem sie Abschied von ihrer Schwester nimmt: „Ich weiß, dass ich sie zum letzten Mal lebend in meinen Armen halte, aber ich kann nichts von einem Abschied spüren.“

Schleicher gelingt es ganz ohne jede Übertreibung die Geschichte der beiden Schwestern zu erzählen, von denen am Ende nur eine leben wird. Sie beschreibt Schmerz, Trauer, Wut und Überforderung der gesunden Schwester Sophie, die im Laufe des Romans eine eigene Entwicklung durchlebt – zunächst erschrocken und besorgt über die Krankenhauseinweisung ihrer Zwillingsschwester, schafft sie sich die notwendigen Freiräume bei Arbeit und Familie, um die Schwester besuchen und für sie da sein zu können. 

Obwohl Wasseransammlungen in Herz und Lunge der Schwester nichts Gutes verheißen, geht Sophie davon aus, dass bald alles gut sein wird. Schließlich diagnostizieren die Ärzte Krebs. Sophie beginnt sich zu fragen: Ab wann darf man den Gedanken zulassen, dass der Tod der eigenen Schwester bald eintritt? Ab wann muss man diesen Gedanken zulassen? Den Tod eines geliebten Menschen zu erwarten und gleichzeitig zu hoffen, dass das Erwartete nicht eintreffen wird. „Einsehen, dass das Leben zu Ende geht, um unmittelbar darauf wieder zu hoffen, dass es noch lange nicht endgültig passiert“.

Einen Umgang mit dieser inneren Zerrissenheit zu finden, und gleichzeitig dem Erkrankten eine Stütze zu sein, ist eines der zentralen Themen in Schleichers Roman. Dabei hält die Autorin keineswegs ein vermeintliches Patent für den Leser bereit, sondern schildert einen von vielen möglichen und wohl gleichsam richtigen Wegen: den Weg, den Sophie wählt. 

Während Sophies Verzweiflung und Hilflosigkeit in Anbetracht des Zustands ihrer Schwester im Laufe des Romans wachsen, erfährt der Leser auch über Sarahs eigene Not immer mehr. Zu Beginn ihrer Odyssee geht sie noch davon aus, bald wieder in ihrer Werkstatt Puppen bauen zu können – die sie als „die Puppenspielerin“ gemeinsam mit Sophie in eigenen Stücken zum Leben erwecken wird. Nachdem sie mehrere Schlaganfälle erlitten hat, rücken Puppen und Stück in den Hintergrund. Für Sarah geht es darum, Tag für Tag ins Leben zurückzufinden. Lange hält sie an dem Gedanken fest, bald wieder gesund zu sein. Doch zum Ende des Romans ist es schließlich sie, die als erste ihren nahenden Tod ausspricht. Es wirkt, als würde sie ihr Schicksal hinnehmen, auch wenn sie ihre Familie, allen voran ihren Sohn, keineswegs alleine lassen will. 

Sibylle Schleicher schafft mit diesem Roman etwas, das berührt ohne aufgeregt zu sein. Literatur, die das Tieftraurige und zugleich Hoffnungsvolle beschreibt, ohne dabei auf Kitsch, Rührseligkeiten oder besonders Außergewöhnliches zurückzugreifen. 

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Sibylle Schleicher: Die Puppenspielerin
Edition Klöpfer 2021
250 Seiten / 22 Euro

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Foto: chriszwettler / pixabay.com

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