Wie man einen Frosch kocht – Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein

Von Louisa Schwope

Dem Mythos nach springt ein Frosch, so man ihn in kochendes Wasser wirft, sofort aus dem Topf – während er, wenn das Wasser nur langsam erhitzt wird, keine Fluchtversuche unternimmt, weil er die Temperaturunterschiede nicht bemerkt. In Sasha Marianna Salzmanns zweitem Roman dient als Kochwasser ein korrupter sowjetischer Staat, in dem seine BürgerInnen – Salzmanns ProtagonistInnen – weichgekocht werden, bis nur noch wenig Lebendiges und Ehrlich-Authentisches an ihnen ist. Das titelgebende Tschechow-Zitat ist bittere Ironie, weil die Autorin ausschließlich das Gegenteil umschreibt: Herrlich ist da wenig, beherrscht schon eher. Auch 30 Jahre, nachdem der Ofen ausging, kann das Kochwasser noch salzig genug sein, lähmt es die Frösche noch.

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Die Geschichte beginnt irgendwann im Jetzt, was man weiß, weil von Chicken Wings und Computerspielen die Rede ist, und springt mit der Überschrift „DIE SIEBZIGER“ in die ukrainische Stadt Gorlowka. Als Leserin erlebt man in den folgenden Kapiteln (Achtziger, Neunziger) die Kindheit, Jugend und das junge Erwachsenenalter der ersten Protagonistin Lena, bildreich beschrieben aus der Perspektive der dritten Person. Der frühe Tod der eigenen Mutter und der spätere Verlust der Großmutter erschüttern Lena in ihrem Urvertrauen. Wieso stirbt die eigene Mutter, wenn man doch der Ärztin regelmäßig dicke Umschläge mit Banknoten in einem hübsch drapierten Obstkorb vorbeibringt, um sie für die bestmögliche Behandlung zu bestechen? Und erst recht: Warum stirbt sie bereits jetzt, wenn man es doch gerade erst geschafft hat, sich für Medizin in Dnepropetrovsk zu immatrikulieren? Eine bedrückende Atmosphäre der Einsamkeit, des In-sich-gekehrt-Seins und der emotionalen Isolation macht sich breit. „Das war’s“ – „Lena wusste, dass sie den Augenblick zu widersprechen verpasst hatte. Irgendwann schon sehr viel früher. Dieses Gespräch fühlte sich an wie die Fortsetzung einer Kette von Ansagen, die nun zu befolgen waren, weil sie irgendwann, wann war es gewesen, verpasst hatte, den Mund aufzumachen.“ Leben geht trotzdem. Sterben geht, Heiraten geht, auch ohne innere oder äußere Gestaltungsfreiheit. Man arrangiert sich. 

Mit tiefgreifenden, bildstarken Gleichnissen umschreibt Salzmann die Handlungen, Gestik und Mimik der Akteure, und wie sich die Gegenwart für Lena anfühlt: „Das Jetzt war wie geruchloses Gas in Bergwerksstollen, man sah an den herabstürzenden Vögeln, dass es sich ausbreitete.“ Wofür die Autorin Worte findet, dafür mangelt es der Protagonistin an Ausdrucksmöglichkeiten . Sie vereinsamt in ihrem Kokon auf Rädern, der ‚Leben‘ in einem korrupten und kaputten System heißt. Faszinierend deprimierend bemalt die Autorin die große innere Leinwand grau in vielen Facetten. 

Die entscheidenden Momente der Weltgeschichte sowie auch der individuellen Lebensgeschichten schreibt Salzmann nicht nieder, und doch ist es in ihren Zeilen unverkennbar deutlich, wann der eiserne Vorhang gefallen, das eigene Kind geboren, die Ausreise nach Deutschland besiegelt ist. Spätestens, als Lenas Tochter Edita ein eigenes Kapitel übernimmt – „EDI“ – drängt sich das Bild der Matrjoschka auf: Ohne es voreinander jemals zuzugeben oder darüber zu sprechen, wiederholt sich das Schicksal der Frauen; ihre innere Enge, die große Wut, das Gefühl der Notwendigkeit und zeitgleich der Unmöglichkeit, über die Bedingungen der eigenen Vergangenheit miteinander zu sprechen. Was ist eigentlich passiert, bevor Lena mit Edi, Tatjana mit Nina und so viele andere nach Deutschland kamen? Wie war das später mit Donezk, 2014, am Donbass? „Elf Zeitzonen sind quasi auseinandergebröckelt […]. Das Einzige, was feststeht, ist, dass es immer noch Nachbeben gibt. Und bei denen, die es am eigenen Leib erfahren haben, wackeln immer noch die Eingeweide. Oder sie leiden an einer Art Phantomschmerz: Das Land, in das sie hineingeboren wurde, ist schon amputiert, aber es schmerzt noch.“ 

Es ist bitter, zu lesen, wie Menschen sich über Jahrzehnte einem politischen und gesellschaftlichen System anzupassen versuchen, widerwillig und gegen das eigene Innere. Und dass ihnen nach dem Zerfall dieses Systems trotzdem ein so großer Teil ihres aufgezwungenen Selbst fehlt, dass sie die Vergangenheit lieber schönmalen und heraufbeschwören, als sich auf die Suche nach dem neuen Ich im neuen Jetzt zu machen. Zu viel Kraft kostet es, die verbraucht ist, lieber möchte man das letzte bisschen Stolz am Leben erhalten. Ihre Geschichte haftet ihnen ohnehin an. Für die zweite Generation wiederum präsentiert sich die „amputierte“ Herkunft der Eltern als ungenau fassbares, teils unsichtbares, in jedem Fall schweres Erbe. Inwiefern es wirklich etwas mit dem eigenen Leben in der Gegenwart zu tun haben muss, ist unklar. 

Insbesondere die Frauen in Salzmanns Erzählung verspüren einen starken inneren Drang, ihrem Kochwasser zu entfliehen; dem Pionierlager, den unguten oder ungewollten Beziehungen, der Heimatstadt, der Ukraine, den klassischen Rollenbildern, den Erwartungen. Und den Menschen, die ohnehin nicht verstehen; denn „sie verstanden nur, was sie schon wussten. Die Menschen hatten keine Kapazitäten für neue Informationen“. Gelingt ihnen die Flucht? Sasha Marianna Salzmann beantwortet die Frage mit einem schönen Kunstgriff, der sich erst erschließt, wenn man am Ende angekommen ist: Dann wird deutlich, dass das Ende der Geschichte am Anfang schon begonnen hatte; man eigentlich noch einmal von vorne lesen muss, um die Beziehungen der Personen und Anekdoten zueinander zu verstehen und eigene Schlüsse zu ziehen. 

Im Menschen muss alles herrlich sein geht tief und fühlt sich eng an, wirft Fragen auf und sucht nach Antworten, ist subjektiv und vermutlich auch teilweise autobiografisch. Salzmann kam 1995 als Kind aus Russland nach Deutschland und schreibt diesen Roman auf Deutsch – natürlich, würde man vielleicht über die erfolgreiche Dramatikerin sagen. Doch für die Erzählung mag es entscheidend sein, dass es eben keine Übersetzung ist. Zudem befände sich der Roman sonst nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, für den er verdientermaßen nominiert wurde. Er ist eine starke Empfehlung für alle, die sich Bilder machen wollen davon, wie sich Leben in der Sowjetunion und nach ihrem Zusammenbruch für manche, viele angefühlt haben mag – bis heute. 

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Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein
Suhrkamp 2021
384 Seiten / 24 Euro

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Foto: Louisa Schwope

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