Interview: Von Texten und Textilien

Von Clemens Hermann Wagner

Ein Gespräch mit Susanne Bader, der Geschäftsführerin der Freiburger Traditionsbuchhandlung Zum Wetzstein

Freiburg im September 2020. Die Universitätsstadt scheint sich an die neue Normalität der Corona-Pandemie gewöhnt zu haben. Während die Universität geschlossen bleibt, sind die Straßencafés der Innenstadt gut besucht. Susanne Bader, Geschäftsführerin der berühmten Buchhandlung Zum Wetzstein, hat im vergangenen Jahr ihr Geschäft in seiner bekannten Form geschlossen, während des Lockdowns grundlegend renoviert, um seit diesem Sommer nun ein neues und schlankeres Konzept zu verfolgen. Im neuen Laden befindet sich vorne ein Geschäft mit Tuchwaren, während im mittleren Bereich etwa 1.000 ausgewählte Bücher vorrätig gehalten werden. Im hinteren Teil ist eine Schneiderei. Außerdem setzt der Wetzstein nun mehr als früher mit einem Shop auf Online-Handel. Ein Gespräch über die Geschichte des Wetzsteins und die in neuen Zusammenhängen gedachte Buchhandlung der Zukunft, über wünschenswerte Langsamkeit im Literaturbetrieb und über Jan Böhmermanns Medienkritik.

Aufklappen: Frau Bader, was bedeutet es Ihnen, hier in Freiburg zu leben?

Susanne Bader: Das Markgräflerland ist meine Heimat, Freiburg ist die Stadt, in der ich studiert habe und die ich vor allem wegen ihres wunderschönen Münsters liebe. Und dann ist es natürlich die Geschäftsgründung vor 42 Jahren mit Thomas Bader, die mich mit Freiburg so eng verbindet.

Wie hat sich die Geschäftsgründung der Buchhandlung Zum Wetzstein damals zugetragen?

1921 hat Herr Karl Ehrmann eine Buchhandlung im Erdgeschoss der Salzstraße 31 gegründet, Buchhandlung Ehrmann, und diese dann an seine Töchter weitergegeben. Sie wurde dann von Rombach als Rombach Exlibris unter meinem verstorbenen Mann Thomas Bader weitergeführt. Dieser Aufgabe ist er einige Jahre mit viel Leidenschaft nachgegangen. Er hat die Buchhandlung in Freiburg etabliert und wurde im Anschluss, ebenfalls unter Rombach, Geschäftsführer der Universitätsbuchhandlung Albert in der Kaiser-Joseph-Straße. Rombach beschloss im Jahr 1978 die Filialisierung aufzugeben und sich auf ein großes Buchkaufhaus zu konzentrieren. Hier sollte Thomas Bader Geschäftsführer werden. Er lehnte dieses Angebot jedoch ab, denn ein Buchkaufhaus zu leiten, konnte er sich nie vorstellen. Gleichzeitig hörten wir, dass die Räume der Buchhandlung Rombach Exlibris in der Salzstraße frei würden. So nahmen wir Kontakt mit der Familie Ehrmann auf, brachten alles gemeinsam mit Herbert Placzek, der ebenfalls Teilhaber und gemeinsam mit Thomas Bader Geschäftsführer wurde, auf den Weg und beschlossen die Eröffnung auf den 14. Juli 1978 zu legen. Es sollte bewusst dieser geschichtsträchtige Tag des Sturms auf die Bastille sein – mit all seinen aufklärerischen Implikationen. Rombach hat dann im September 1978 sein Buchkaufhaus eröffnet. Unsere Entscheidung war vor diesem Hintergrund damals durchaus ein großes Wagnis.

Aber ein Wagnis, das glücken sollte und zum Erfolg wurde.

Ja, es waren Aufbruchszeiten, weil zu jener Zeit ein etwas moderner ausgerichtetes Verständnis einer Buchhandlung gefragt war, das dennoch die guten, alten Eigenschaften einer Buchhandlung, nämlich die der ausführlichen Buchberatung, verbinden würde. Das haben wir mit Zum Wetzstein geschafft.

Und der Wetzstein stand von Beginn an für ausgewählte Belletristik, für herausragende und besondere Bücher?

Am Anfang war es ein sehr viel bunteres Sortiment, da gab es auch Freiburg-Führer, Wanderkarten, Schulbücher zu finden. Aber durch einen Roman eines berühmten Schriftstellers, den Thomas Bader und ich gemeinsam in unseren Ferien in den Achtzigerjahren lasen und dessen Titel ich bewusst nicht verrate, hat sich dieses Sortiment dann noch einmal grundsätzlich gewandelt. Thomas Bader und ich beschlossen, zu straffen, zu konzentrieren und eine strenge Auswahl zu treffen. Das Augenmerk sollte für die Kunden bewusst auf Bücher gelegt werden, die besonders und wertvoll und nicht überall zu erwerben sind. Zurückgekehrt aus den Ferien begannen wir also nachdrücklich, das bisherige Konzept noch einmal zu überarbeiten.

Im vergangenen Jahr haben Sie für viele unerwartet in einer überregionalen Zeitung bekannt gegeben, dass der Wetzstein vor großen Veränderungen stehe.

Ich habe es damals sehr bewusst so ausgedrückt, dass das Ladengeschäft in dieser Form seine Zeit hatte und zum Jahresende 2019 geschlossen werden soll. Nun haben die Zeitungen die einfache Schlagzeile: „der Wetzstein schließt“, gedruckt und haben darüber nicht zur Kenntnis genommen, dass ich immer betont habe, dass das besondere Buch, der Wetzstein und Susanne Bader erhalten bleiben. Bleiben Sie neugierig und aufgeschlossen, das waren und sind meine Worte. Aber tatsächlich: Das Ladengeschäft in der alten Form hatte seine Zeit. Der Wetzstein als etablierte Buchhandlung mit mehreren Angestellten und einem vergleichsweisen großen Apparat im Hintergrund hatte eine Größe, die nicht einfach zu handhaben war und wurde mehr und mehr zum Museum. Man soll alles vorrätig haben, was schier nicht möglich ist. Dann der Gedanke von vielen Kundinnen und Kunden: „Ach so, das Buch ist auch bei Ihnen am nächsten Tag da, nicht nur bei Amazon.“ Das ist durchaus eine große und herausfordernde Aufgabe. Aber noch einmal zu den Nachrichten im Jahr 2019, als ich die Veränderungen für den Wetzstein ankündigte: Zeitungen reagieren häufig so und werden immer wieder auch in der Schnelligkeit von dem Wunsch nach Schlagzeilen getrieben. Jan Böhmermann hat im Übrigen zu diesem ganzen Medienkontext ein sehr kluges Interview anlässlich seines neuen Buches über Twitter gefolgt von niemandem, dem du folgst veröffentlicht. Da hat er viele dieser Schwierigkeiten der Medienlandschaft präzise auf den Punkt gebracht, wie ich finde.

Glauben Sie, dass es in zehn Jahren noch stationäre Buchhandlungen geben kann?

Ja, das glaube ich fest. Auch unabhängig von dieser Pandemie, von der wir alle nicht wissen können, wie sie sich weiter entwickeln wird, sind wir soziale Wesen und suchen die Begegnung, den mündlichen Austausch. Wir brauchen auch das Gesicht und wollen immer wieder den ganzen Menschen. Ich hoffe, dass es eine der großen Erkenntnisse dieser letzten Monate sein wird, wie wichtig all das für uns ist. Und was speziell die stationären Buchhandlungen betrifft: Im Zuge der Veränderungen der Innenstädte hoffe ich auf eine neue Achtsamkeit der Zusammenhänge. Ich glaube, wir sollten neu die Einheiten von Wohnen, Arbeiten, Leben und Handwerk in den Innenstädten, die im Zuge der Industrialisierung aufgegeben wurden, in den Blick nehmen. Das ist das Konzept, das ich verfolge: Da gibt es im Haus „Wetzstein“ nun einen Stoffladen und eine Schneiderei, da gibt es oben die Wohnungen und es gibt es eben auch den Bereich der Buchhandlung, vor allem aber gibt es Leben und Begegnung.

Wie würden Sie dieses neue Zeitalter der Buchhandlung Zum Wetzstein beschreiben?

Es ist eine neue Form des Zusammendenkens. Auch ein neues Zusammenspiel von Präsenz und Digitalem. So habe ich eine neue Internetseite konzipiert, weil die Frage des Digitalen wichtig ist und ich nach Wegen suche – auch unter dem Aspekt der Umweltfreundlichkeit – hier ein Angebot zu geben.

Sie bringen damit sehr unterschiedliche Facetten in das neue Konzept des Wetzsteins.

Ja, und besondere Bedeutung hat dabei für mich eben auch das Handwerkliche. Ich habe das immer wieder etwa in Berlin erlebt: Handwerker, die sich bewusst und prominent in den einzelnen Stadtteilen niederlassen, etwa mit hochwertigen Schuhgeschäften, Reparaturbetrieben, Schreinerwerkstätten, schönen Schneidereien oder besonderen Schmieden. Das hat in Berlin schon sehr früh begonnen. Ich habe lange Zeit dort gelebt und gearbeitet, bin zwischen Freiburg und Berlin gependelt und war von dem Konzept dieser wiederentdeckten Zusammenhänge immer wieder begeistert. Es sind diese Zusammenhänge, ob hier in Freiburg oder auch in anderen Städten und Landschaften, die mich faszinieren. Zu denken sei nur an „Text“, „Textil“, „Buch“, „Stoff“. Das sind Dinge, die fraglos zusammenhängen. Vielleicht sehe ich darin auch meine Aufgabe – freilich ohne missionarisch sein zu wollen –, auf Zusammenhänge aufmerksam zu machen, die Bedeutung des Verbindenden herauszuarbeiten und andere Menschen dazu zu ermutigen, dies auch zu tun.

Glauben Sie, dass das in der heutigen Zeit besonders nötig ist?

Ich liebe die Menschen und Begegnungen und verstehe zugleich manches überhaupt nicht mehr in unserem Land und in Europa. Ich mache mir große Sorgen um das Zusammenhalten der Gesellschaft.  Weil ich mich zunächst als gute Gastgeberin in meinem Geschäft verstehe, habe ich bisher nur sehr wenige Menschen meines Ladens verwiesen, aber radikale Äußerungen und Bemerkungen, die die Grenzen hin zur Diskriminierung überschreiten, lasse ich nicht stehen. Wenn in meinem Laden Behauptungen fallen, die in eine solche Richtung zielen, dann mache ich auch von meinem Hausrecht Gebrauch und positioniere mich klar und deutlich.

Das sind fraglos keine angenehmen Begegnungen. Und dennoch oder gerade deswegen halten Sie so an den analogen Orten der Begegnung fest?

Ja, weil es letztlich darauf ankommt, sich auf den oder die andere einzulassen. Und das ist virtuell für mich nicht so möglich, wie es im echten Leben möglich und notwendig ist. Und sicher ist es wohl auch die Frage von Aktion und Reaktion, die sich im Digitalen so sehr verschiebt. Spontanität einerseits in der Gestik und Nachdenklichkeit andererseits gehen verloren, und vielleicht, ja vielleicht leidet auch unsere Kreativität.

Wie nehmen Sie die Digitalisierung im Hinblick auf Literatur und Kultur wahr?

Das Literaturarchiv in Marbach etwa verfolgt mit der neuen Direktorin eine sehr interessante Entwicklung.

Sandra Richter wird ja nicht unkritisch wahrgenommen 

Ja, sie wird sehr kritisch wahrgenommen, weil sie so viele Veränderungen, etwa eben in den drängenden Fragen der Digitalisierung angestoßen hat und gerade sehr darum bemüht ist, ihr neues Konzept zu vermitteln. Und leider sind es dort auch die Versäumnisse der Vergangenheit, die jetzt besonders sichtbar werden. Die Frage nach der Zukunft des Archivs stellt sich ganz konkret: Wie sollen alle – und eben insbesondere digitale – Nachlässe gesammelt und aufbewahrt werden? Denn natürlich werden die Nachlässe immer mehr auch in digitaler Form kommen. Das heißt, hier muss neu gedacht, gesammelt und konserviert werden. Das ist eine nicht einfache und nicht endgültig geklärte Frage. Ich verfolge die neuen Konzepte dazu in Marbach mit einem hohen Interesse und habe etwa schon vor Jahren mit der Autorin Ulrike Draesner darüber gesprochen, die schon damals manche Texte nur digital veröffentlicht hat.

Rainald Goetz mit Abfall für alle und Wolfgang Herrndorf mit Arbeit und Struktur haben hier sicher ebenso Pionierarbeit geleistet. Damals nur ausgewählten Kennern im Internet bekannt, sind sie heute Literaturklassiker.

Ja, richtig! Oder auch der exotische und sympathische Christoph Schlingensief, der neue Maßstäbe gesetzt hat. Wir müssen immer wieder neue Wege suchen und neugierig bleiben. Und ja, Sie sprachen es an: Die neue Direktorin des Literaturarchivs in Marbach wird natürlich zunächst einmal kritisch beobachtet, weil sie verändert, weil sie etwa auch sagt, dass Spiele gesammelt werden müssen. Aber Spiele sind nun mal eben auch ein künstlerischer, literarischer Ausdruck des Menschen. Schiller spricht von dem Spieltrieb des Menschen, mit dem er über sich hinauswächst. Und trotzdem wird hier eine Direktorin in ihrer Professionalität, mit ihren wohl überlegten Entscheidungen öffentlich und harsch in Frage gestellt. Das scheint mir durchaus auch eine Geschlechterfrage zu sein.

Die Gender-Frage stellt sich also für Sie immer wieder?

Aber absolut! Vor wenigen Tagen erreichte mich eine E-Mail eines Mannes mit der Nachricht „Aus der ehrwürdigen Buchhandlung Zum Wetzstein ist nun eine schlichte Frauenbuchhandlung geworden.“ Und das alles, ohne unser ausgewähltes Sortiment zu kennen. Da schluckt man schon mal kurz.

Wie, glauben Sie, wird sich die Literatur als die womöglich leiseste Form der Künste in der Rohheit solcher Äußerungen auf dem Unterhaltungsmarkt der Zukunft behaupten können?

Der Rahmen wird sich sicher verändern. Ich wünsche mir, dass wir den Wert der Geschwindigkeit nicht über den der Langsamkeit und Gründlichkeit setzen. Geschwindigkeit ist fraglos entscheidend in unserer Zeit, aber wir brauchen die Sensibilität dafür, wie lange es dauert, bis ein gutes Buch, bis gute Literatur entsteht. Es ist ein langsames Geschäft und die Frage berührt für mich durchaus auch die Frage nach einer Form des Werteverfalls. Es ist an uns allen, zu sagen, dass wir Ruhe und Muße für Literatur brauchen, um sie wirklich verstehen zu können.

Zugleich glauben Sie aber auch an die innovativen, modernen, schnelleren Formen, an das Neue und ermutigen dazu, neugierig zu bleiben.

Ja unbedingt. Deswegen sprach ich eben auch von Jan Böhmermann, der wirklich klug auf die Entwicklungen von Twitter und den Medien geschaut hat. Die sozialen Netzwerke sind sicher nicht meines, auch wenn ich gerade an einem Instagram-Account für die Buchhandlung arbeite. Privat nutze ich seit einiger Zeit mit Interesse Twitter. Dort erfahre ich viele Informationen zuerst und habe zugleich auch Gegenwind auf meine Äußerungen bekommen. Das ist auch ein Ausdruck meines politischen Interesses und meiner Haltung.

Die Corona-Pandemie hat verschiedene Schieflagen neu in den Blick gebracht und sicher auch verschärft. Welche Bedeutung kann dabei überhaupt Literatur zukommen? Ist etwa mit der Shortlist des Deutschen Buchpreises, die nun kürzlich veröffentlicht wurde, ein gesellschaftspolitischer Impuls zu erkennen?

Ich glaube ja. Die relativ junge Jury verfolgte vielleicht die Kategorien „jung“ und „schnell“. Thomas Hettche ist dabei mit seiner Geschichte der Augsburger Puppenkiste und gleichzeitig der Bundesrepublik vielleicht eine heilsame Ausnahme. Und auf Anne Weber, Annette. Ein Heldinnenepos, auf dieses sprachlich sehr besondere Buch, freue ich mich. Aber kritisch möchte ich anmerken, dass ich im Zuge dieser immer weiter umgreifenden Schnelligkeit des Buchmarktes häufig das Gefühl habe, manche Bücher sind ein etwas breiter ausgerollter Zeitungsartikel. Auf der anderen Seite: Ich kenne aus meiner Zeit als Literaturagentin viele Autorinnen und Autoren, die bereits viel im Internet veröffentlicht hatten und dann doch den Wunsch verspüren, dass ihre Texte auch zwischen zwei Buchdeckeln erscheinen. Auch hier zitiere ich Jan Böhmermann, der sich wünscht, dass etwas bleibt, weil er, wir alle es von diesem Internet einfach nicht mit Bestimmtheit sagen können. Vielleicht braucht es hier eine größere Beachtung derjenigen jungen Autorinnen und Autoren, die experimentelle Formen wagen. Ich frage mich schon, welcher von den Titeln der Shortlist bleiben wird. Wir werden sehen, und ich bin neugierig.

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