Immer noch irgendwo dazwischen – Ivna Žic: Wahrscheinliche Herkünfte

von Jascha Feldhaus

In ihrem jüngst erschienenen Buch Wahrscheinliche Herkünfte vereint Ivna Žic vier essayistische Texte, die sich mit ihrer Frage nach der Herkunft beschäftigen. Das Angebot ist vielfältig; die Autorin bewegt sich zwischen Poetikvorlesung und Recherchearbeit, zwischen Fragen nach unerzählten Teilen der Familiengeschichte und der Auseinandersetzung mit Sprache und Mehrsprachigkeit.

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Die in diesem Band zusammengebrachten Texte unterscheiden sich insofern durch die Konstellation voneinander, als die Autorin im ersten Text sich selbst als Ausgangspunkt präsentiert, im folgenden die Großmutter, im dritten den Großvater und zuletzt Lubna Abou Kheir, eine Autorin, mit der Žic am Theater Neumarkt aufgrund einer Auftragsarbeit zusammenkommt. Thematisch bleiben die vier Teile aber dadurch verbunden, dass sie sich mit derselben Frage nach Herkunft beschäftigen, welche sich besonders anhand der Sprache und Mehrsprachigkeit eröffnet. Das im Titel verwendete Adjektiv wahrscheinlich drückt dabei genau das aus, was den Texten zugrunde liegt: Die ziemliche Sicherheit ist eben auch nur relativ, weil schlussendlich keine Sicherheit darüber hergestellt werden kann, ob man, hier die Autorin, sich seiner eigenen Herkunft gewiss ist. Die Gründe dafür sind verschieden, weil Zeit und Raum sich jeweils ganz unterschiedlich verhalten, wenn dieselben Fragen an unterschiedliche Personen oder Zusammenhänge herangetragen werden.

Der erste Text mag einigen schon bekannt sein. Ivna Žic veröffentlicht hier zum Einstieg dieses Essaybandes ihre Poetikvorlesung mit dem Titel Ich frage dich nicht, wer du nicht bist, die sie an der Theaterakademie der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg gehalten hat. Ein hochinteressanter Text, der eingeleitet wird mittels Žics Erinnerungen an ihren kindlich-naiven Versuch, sich dem Schreiben zu nähern. Buchstaben gewinnen hier eine außerordentliche Freiheit. Sie werden mehr als Zeichen verstanden, die in spielerischer Leichtigkeit nicht der eigentlichen normierten Schreibung entsprechend auch gerne einmal auf links angeordnet werden. Oder die Wörter in einer solchen Art verändern, dass in ihnen mehrere Sprachen zusammenkommen – alles passiert hier noch anders als „vor der Einschulung, denn dort wurde dann alles, was ich hier beschreibe, wieder zurechtgerückt.“ Sodass die Autorin retrospektiv herausstellt, darin „vielleicht die intimste, die ehrlichste, vielleicht: meine Sprache“ zu sehen, wo die Einflüsse des Kroatischen, der Schweizer Mundart, des Hochdeutschen oder eventuell des Amerikanischen beliebig sich in Wörter legen konnten. Mit der Einschulung beginnt die Einordnung der verschiedenen Sprachen, es wird dadurch ein Bewusstsein geschaffen, dass es Unterschiede zwischen ihnen gibt wie beispielsweise offizielle oder inoffizielle Sprachen. Sie zeichnet an ihrem Werdegang nach, wie mit den einzelnen Sprachen umgegangen wurde, ob das Andere, das Fremde abgelehnt oder als zusätzliche Verdichtung verwendet wurde, welche Rolle die Personen um sie herum bei ihrer eigenen Entwicklung der Sprache gespielt haben. Žics Anliegen zielt darauf ab, dem Leser klarzumachen, dass das Viele, was in einem ist, immer auch mitgedacht, mit eingebracht werden muss, um etwas „von bleibendem Wert“ zu schaffen.

Diesem bleibenden Wert spürt Ivna Žic in den weiteren Texten nach. Dabei blickt sie zurück auf ihre Großeltern. Der folgende Text befasst sich mit ihren Großmüttern, die im Gegensatz zu den Großvätern nichts erzählt haben. Sie sieht aber die großmütterlichen Lehrsätze, die ihr besonders nach deren Ableben wieder bewusst werden. Sie fragt sich, was jetzt davon bleiben wird, „außer Anekdoten, ein jährlicher Besuch am Friedhof, ein bisschen Schmuck, Erinnerungen, die verblassen.“ Um dann die Vermutung aufzustellen, dass eben diese Sätze vielleicht „klarer und prägender als die Märchen des Großvaters“ dableiben werden. Anschließend steht der großväterliche Teil in Verbindung mit ihrem Roman Die Nachkommende, er skizziert einen Teil ihrer Recherchearbeit nach. Dabei verfolgt sie eben die Geschichte ihres Großvater: „Meine Sprache und ich laufen gemeinsam los, um den Erfahrungen hinter Großvaters Sprachlosigkeit nachzugehen.“ In beiden Texten steht der Einfluss der vorangegangenen Generationen auf ihr Leben im Fokus; die Sprache und die Sprachen, das Gesagte und Ungesagte sind hier die wichtigen Anhaltspunkte für das Selbst.

„Wir waren nie die Ersten“ – so könnte auch der Buchtitel lauten, wenn nicht noch der letzte Text den Abschluss des Bandes bilden würde. Die Begegnung mit Lubna Abou Kheir am Theater Neumarkt löst Žic aus ihrem Familienzusammenhang, bringt sie in die Gegenwart und in eine nach außen gelagerte Auseinandersetzung mit Herkunft und Sprache. Dadurch gelingt es, Wahrscheinliche Herkünfte als rundes Arrangement zu präsentieren, das dem Leser eine Handreichung sein kann, sich mit den eigenen Herkünften zu beschäftigen.


Ivna Žic: Wahrscheinliche Herkünfte
Matthes & Seitz 2023
217 Seiten / 20 Euro

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Foto: Luisa Schwope

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