Von Jascha Feldhaus
Gerade angekommen und dann irgendwie nicht. Ivna Žic erzählt die Geschichte einer Protagonistin, die sich ständig von einem Ort zum nächsten bewegt: von Novi-Zagreb nach Zürich, von Paris zu der Insel, auf der ihre Großmutter alleine wohnt. Auf ihrer ununterbrochenen Reise erfahren wir viel aus ihrem Leben, das dazwischen stattfindet. Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart sind dabei die Bezugspunkte für die Gedankenwelt der Nachkommenden. Durch diese aus Zeit- und Ortwechseln verwobene Reise gelingt es der Autorin, die Lebens- und Erinnerungswelten der Ich-Erzählerin dem Leser so zu eröffnen, dass das Gefühl entsteht, man sitze neben ihr.
Ivna Žic streift in ihrem Debütroman verschiedene Bereiche des alltäglichen Lebens. Am Beginn sind wir gemeinsam mit der Protagonistin auf der Reise von Paris in Richtung kroatischer Großmutterinsel. In einem viel zu kühlen Waggon mitten in der unerbittlichen Hochsommerhitze verlässt sie die Weltmetropole und ihren Freund, fährt zwölf Stunden in Richtung Familie. Raum und Zeit werden hier zu den lenkenden Mächten der Erzählerin: „bekannte zwölf Stunden, wo stapeln sie sich wohl, diese immer wieder neuen fast zwölf Stunden Fahrt, irgendwo in diesem gekrümmten Körper liegen und stapeln sie sich.“ Die Strapazen langer Reisen können die meisten heute wohl gut nachvollziehen, anders ist es bei der Familie der Protagonistin, anstatt Freude über ihre Ankunft wird ihr vorwurfsvoll gesagt, dass sie doch immer so weit weg sei und auch bald schon wieder gehen müsse.
In den Gedanken darüber schafft sich die Protagonistin gleichzeitig aber den Platz für Erinnerungen an ihren Großvater, den sie stets als ihren stillen Begleiter mit sich trägt. Früher hat dieser Großvater die gleiche Fahrt auf sich genommen hat, nur in umgekehrter Richtung von Kroatien nach Frankreich. Ebenso eröffnen ihr die Erinnerungen an ihn, sich historische Entwicklungen zu vergegenwärtigen, die die unterschiedlichen Bezüge zu einem gemeinsamen Ort der kroatischen Geschichte aufwerfen: dem Ban-Jelačić-Platz. – Die Verbindung von Raum mit Zeit auf der einen Seite (Zugfahrt, Familie, Großmutterinsel), die von Zeit mit Raum (Erinnerungen, Großvater, Ban-Jelačić-Platz) auf der anderen bieten dem Leser verschiedene miteinander verschränkte Ebenen innerhalb der Lektüre, die ein anspruchsvolles, dynamisches Gefüge herstellen.
Ein wichtiges Thema des Romans ist die Zweisprachigkeit. Gebürtig in Kroatien, dann aufgewachsen in der Schweiz hat die Protagonistin eben mehr als nur eine Muttersprache, weshalb sie sich immer selbst befragen und -vergewissern muss auf ihrer Reise, ob sie sich noch richtig in ihrer kroatischen Muttersprache bewegt: „Jedan slanac, einen slanac, i jednu vodu, wiederhole ich und höre jedem Wort zu, jedan eins, Wasser voda, slanac slanac, meine Selbstvergewisserung verunsichert die Verkäuferin.“ Der Einsatz des Kroatischen bietet einen zusätzliche Herausforderung, denn wie im angeführten Beispiel gezeigt wird die zweite Sprache (die eigentlich ja die erste der Protagonistin ist) nicht reibungslos übersetzt oder mit voller Sicherheit ins Deutsche wiedergegeben. Die vielfachen Unsicherheiten übertragen sich auf diese Weise wirkungsvoll auf den Lesenden.
Dass die Autorin Ivna Žic vom Theater kommt und der Roman ursprünglich eine dramaturgische Auftragsarbeit war, hat Spuren im Text hinterlassen. So gelingt es ihr, in einem bildreichen, spannenden und mitfühlenden Ton die Sichtweise der Protagonistin offenzulegen und den Leser in ihr Erleben hinein zu ziehen. Wie aktuell Die Nachkommende ist, gerade für jüngere Generationen, die mit einem Europa ohne Grenzen aufwachsen, zeigen besonders die aufgezeigten Themenschwerpunkte. Einerseits ist es mittlerweile für uns ganz selbstverständlich, in die Nachbarländer zu fahren, ohne stundenlang irgendwo aufgehalten zu werden, um den Reisepass vorzuzeigen. Gleichzeitig sind da aber eben oft auch Eltern- und Großelterngenerationen, die sich dort am meisten verbunden fühlen, wo sie geboren sind und noch heute leben. Viele werden die Fragen kennen: Wann kommst du mal wieder her? Wie lange bleibst du? Was machst du da und dort überhaupt?
Die Bezüge zum Geburtsort, zur Heimat sind fragil, fließend ist der Übergang zu neuen Ländern, in denen es gilt, Fuß zu fassen. Was häufig bleibt ist die mitgenommene Muttersprache und eine heimatliche Vorstellungswelt, zu denen sich dann jeweils eine zweite gesellt. So kommt es denen dort vor, als würde man sich von ihnen im da entfernen; da trägt man aber das dort immer bei sich. Ein tolles, genuin europäisches Debüt durch das man hoffen möchte, dass es nicht der letzte Erzähltext von Ivna Žic war!
Ivna Žic: Die Nachkommende
Matthes & Seitz 2019
164 Seiten / 20 Euro
Foto: Targor / pixabay.com
2 Kommentare zu „Irgendwo dazwischen – Ivna Žic: Die Nachkommende“