Von Jascha Feldhaus
Christoph Poschenrieder schreibt einen Roman über Gustav Meyrink im Jahr 1918. Wie schon in seinen vorangegangenen Büchern versucht sich der in München lebende Schriftsteller an einer Montage von Erfundenem und Tatsächlichem. Was damals Trumpf war, geht in dem neuen Buch nicht auf.
Meyrink befindet sich zu Beginn des Buches in einer Séance in seinem „Haus zur letzten Latern“, als die Teilnehmer durch ein unerwartetes, eiliges Klopfen gestört werden und ihn ein Brief an der Tür mit dem Angebot überreicht wird, einen Roman über die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu schreiben. Nach einigen Abwägungen und einer kurzen Auseinandersetzung über die Auftragsarbeit mit seiner Frau Mena entscheidet er sich nach Berlin zu fahren und sich die Angelegenheit dort im Auswärtigen Amt genauer erklären zu lassen. Der Sache sicher, dem Angebot eigentlich nicht nachgehen zu wollen, nimmt er die Arbeit doch an: Der finanzielle Vorschuss ist doch zu verlockend für einen Schriftsteller wie ihn, der einen aufwendigen Lebensstil führt – dazu ist er sich sicher, dass die Schreibarbeit ihm leicht von der Hand gehen wird. Die Schuld an allem sollen die Freimaurer tragen, so die einzige Vorgabe vom betreuenden Beamten von Hahn – wozu er auch gleich etliche Dokumente und Informationen über Logen und Freimaurerei nach Hause geschickt bekommt.
Wieder zu Hause angekommen landen die nachgeschickten Dokumente jedoch sofort in der Abstellung, weil Meyrink sie für unnötig hält. Die Auftragsarbeitet bereitet ihm dann doch mehr Mühe als gedacht. Die zunehmend erfolglosen Versuche, die Arbeit aufzunehmen, führen dazu, dass sich Meyrink immer weiter davon entfernt, während er gleichzeitig den Vorschuss mit vollen Händen ausgibt. Auch der Versuch, sich seiner alten schriftstellerischen Tugenden und Schreibverfahren zu erinnern, ändert nichts daran: Was ihm damals so leicht fiel, verursacht ihm nun Kopfzerbrechen. Aber auch die Möglichkeit, bei seinem Café-Freund Mühsam die nötige Hilfe zu erhalten, stellt sich als falsche Hoffnung heraus. Zwar ist Mühsam näher am politischen Leben, doch mehr mit seiner eigenen Agenda beschäftigt, als dass er Meyrink produktive Vorschläge unterbreiten könnte.
Das politische Leben Mühsams ist dann auch der Nebenschauplatz des Romans. Es geht dabei um die bayerische Revolution, die von Kurt Eisner angeführt wird. Diesem Eisner eifert Mühsam hinterher, ehe er sich löst und versucht, sich selbst und seine eigene sozialdemokratische Idee in den Vordergrund zu rücken. Mühsam scheitert leider an seiner mangelnden Redekunst und an sich selbst: seine Reden werden im Café von den anderen Gästen ständig unterbrochen und mit Einwänden kommentiert, weshalb er sich immerfort erklären muss; dazu verliert er in seinem revolutionären Eifer die Übersicht. Ihm folgen die Menschen zwar mehr und mehr, aber er wird als jemand von Eisners Leuten gesehen – schließlich verliert er auch die Zeit aus den Augen, weshalb er zur Ratswahl zu spät erscheint und ihm damit jede Chance auf einen Posten verwehrt bleibt. Gegenüber Meyrink hält er am Ende resignierend fest: „Hören Sie Meyrink: Man hat mir die Revolution gestohlen. Eisner hat mir die Revolution gestohlen.“
Am Schluss wird der Druck auf Meyrink immer größer. Er soll endlich Ergebnisse liefern. Der rettende Anker wird ihm vom Auswärtigen Amt selbst zugespielt: Die deutsche Freimaurerloge hat Wind von der Sache bekommen. Sie wollen, dass Meyrink in seinem Roman ausschließlich den ausländischen Logen Roman die Schuld zuschiebt. – Dann findet er doch einen Zugang. Er beginnt zu schreiben nach dem Motto: „Warum die Phantasie anstrengen, wenn die Wirklichkeit sie um Längen schlägt?“ Dem aufmerksamen Leser fällt hier der Beginn des Buches ein, das er in Händen hält: Poschenrieder wählt dort den gleichen Einstieg wie hier Meyrink. Meyrink arbeitet jetzt so intensiv an dem Roman, dass selbst das farbleere Farbband seiner Schreibmaschine ihn nicht vom Schreiben aufhält und dem aufgetragenen Ziel so immer schneller näherkommt: „Er brauchte knapp drei Wochen für den Roman, den er […] nun immer öfter den ‚unsichtbaren Roman‘ nannte.“
Christoph Poschenrieder ist ein wunderbarer Erzähler, wenn dieser Roman – bis auf einige Momente – auch seinen früheren hinterherläuft. Ein besonderes Merkmal des vorliegenden Textes sind die eingeschobenen „Recherchenotizen“, die in regelmäßigen Abständen den Kapiteln folgen. Die Informationen, die einem darin mitgegeben werden, haben zwar häufig einen Bezug zur Handlung, bringen sie aber selten entscheidend voran. Warum er das Potenzial seiner Notizen nicht als ein fiktionales genutzt hat, bleibt an vielen Stellen schleierhaft. So ist dieses Buch in seinen erzählenden Kapiteln zumeist eine unterhaltsame Lektüre, die leider viel zu oft, durch Fakten unterbrochen wird. Dabei gibt der Beamte des Auswärtigen Amtes Hahn schon die Richtung für einen Roman vor: „Im Reich der Fiktionen, in Ihrem Roman, spielen Sie mit dem, was die Menschen glauben oder glauben wollen.“
Am Schluss stellt er dann noch eine „Notiz zur Geschichte der Geschichte“ an, die wohl nur der skurrile Höhepunkt dieses Unfugs ist. Erwies sich der Nutzen der Verschränkung von Tatsachenwahrheit und fiktionalem Text schon in den „Recherchenotizen“ als gering, gerät sie hier vollends zur merkwürdigen Rechtfertigung des Autors. Aber vielleicht braucht er das auch, um sich vor seinen Auftraggebern zu erklären (Arbeitsstipendium von 6000 Euro der bayerischen Landeshauptstadt München) – wofür auch immer. – Schön wäre ein fesselnder Erzähltext gewesen, wie er ihn mit seinem Debütroman Die Welt ist im Kopf geschaffen hat, in dem das Vexierspiel von Fiktion und Wahrheit eleganter in Szene gesetzt worden ist. Der historische erregende Stoff bot auch diesmal alle Möglichkeiten.
Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman
Diogenes 2019
272 Seiten / 24 Euro
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