„Es läuft gut für die Menschheit“ – Sibylle Berg: GRM. Brainfuck

Von Matthias Fischli

Sexsklaverei, Sozialkaufhäuser, Snuff-Videos – all diese Themen wurden bereits einmal in Literatur abgehandelt. In richtig guter Literatur. Sibylle Berg führt diese Absonderlichkeiten der gegenwärtigen Sozio- und Technosphäre in einer Gesamtschau zusammen und fügt ihnen noch Wut und Hass und eine kaum zu überbietende Grausamkeit hinzu. Alles abgemischt mit dem harten Sound von Grime. Perverse Punchlines. Brutale Nachhallefekte. Totale Überorchestrierung. Kann das genießbar sein?

Unsere Rezension beginnt mit dem Refrain: Männer stecken ihr Genital in Staubsauger und Türspalten, in Tiere und ins Eisfach, ficken oder schlagen Kinder halb oder ganz tot. Frauen versuchen sich umzubringen und liegen mit halb weggeschossenen Gesichtern, querschnittgelähmten Körpern oder von Rohrreinigern verätzten Organen herum. Zwischen Männern und Frauen Kinder, die die Moral der Erwachsenen einatmen und ihr Handeln nachahmen. „Die Luft wird giftig, die Gegenstände verlieren ihre Unschuld, weil sie die Zeugen von Demütigung werden.“ Die Kinder organisieren sich in Gangs, transportieren Drogen, bringen sich mit vollautomatischen Gewehren gegenseitig um.

In der Literatur entscheiden Form und Inhalt eines Werkes über dessen Verwertbarkeit im Kulturbetrieb, über den Ruhm und Nachruhm der Schreibenden und über die Nuancen im Echo der Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker. Der Inhalt von Sibylle Bergs neuestem Roman ist schnell erzählt. Die vier Kinder Don, Hannah, Karen und Peter leben in einem England der nahen Zukunft im kaputten Rochdale in kaputten Unterschichtssiedlungen in kaputten Familien. Sie verlieren ihre Mütter und Väter an den Alkohol, an ein prekäres Gesundheitssystem, an reiche russische Geschäftsmänner. Verhärmt, verlassen, vergewaltigt haben sie am Schluss nur noch sich. Sie ziehen zusammen durch die Straßen von Quartieren, in denen nicht einmal mehr Kriminelle etwas Verwertbares oder einen Absatzmarkt für ihre Drogen finden. Sie sehen ihre Zerbrechlichkeit im Anderssein des Gegenübers gespiegelt: Don ist lesbisch, Hannah eine jüdische Halbwaise, Karen ein Mädchen schwarzer Abstammung mit Albinismus, Peter der autistische Sohn einer polnischen Sexarbeiterin. In ihnen wächst ein dumpfes Bedürfnis nach Rache für den desolaten seelischen und körperlichen Zustand, in dem sie sich gefangen fühlen. Die Kinder werden erwachsen. Ihre Rachegedanken drehen sich nicht mehr um Einzelpersonen, sondern fressen sich als Systemkritik in ihre Köpfe. Sie reisen nach London und schließen sich einer Aktivistengruppe an, planen einen Anschlag.

So dürftig wie der Plot sind auch die Charakterzeichnungen der Figuren. Die vier Kinder werden kaum fassbar. Von einem Entwicklungsroman kann nicht die Rede sein, denn ihre Persönlichkeit bleibt unsichtbar, begraben unter dem Schmutz von Sozialbauten, verschollen hinter der verzweifelt nach Fassung und Menschenwürde ringenden Fassade. Die dargestellten Erwachsenen fungieren fast durchgehend als Schablonen. Die Studentin, der Programmierer, der verrohte Familienvater – sie alle sind überzeichnet, folgen der Logik eines in den Text eingewobenen pauschalklischierten Weltbildes.

Das präsentierte Weltbild erweist sich als flach: Don, Hannah, Karen und Peter leben in einem dysfunktionalen neoliberalen, patriarchalen, rassistischen, faschistoiden, klimakrisegeschüttelten Überwachungsstaat orwellschen Zuschnitts. Im Roman ist alles Übel der Welt, das wir aus den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts kennen, auf 634 Seiten zeitlich und örtlich zusammengefaltet zu einem Panoptikum purer stumpfer Gewalt. Dumpfe Berieselung am Fernsehen, wohldosierter Hass gegen alles und jeden und in Massen abgegebene Psychopharmaka paralysieren die Gesellschaft, die aus einer gewaltigen arbeitslosen Unterschicht und einem winzigen Prozentsatz arbeitender reicher Technokraten und Politiker besteht. Zwischen den Zeilen trieft Kapitalismus-, Digitalisierungs- und Globalisierungskritik hervor. Es ist dies die in den Feuilletons, in den Studizeitungen westlicher Universitäten und den Druckerzeugnissen kleiner Hipsterverlage seit Jahren täglich (in schwächerer Form) verbreitete Kritik der gebildeten postmodernen Elite.

Der Inhaltsseite steht die Formebene gegenüber. Auffällig in Sibylle Bergs Roman ist die stakkatohafte Syntax: Der Satzbau tönt nach Grime, einem in den Nullerjahren in den UK entwickelten Musikgenre, im Stil verwandt mit Rap und Hip Hop, im Duktus aber schneller. Zeilenumbrüche finden mitten im Text statt. Was abgekürzt werden kann, ist abgekürzt („OMG“, „WTF“, „TBC“). Was präzisiert werden muss, wird kurz und knapp präzisiert („Jugendliche Slash Kinder“, „irre Führer in Klammern männlich“). Im Textgeflecht kündigen sich Zeitsprünge, Perspektiv- und Ortswechsel durch fett hervorgehobene Namen oder kursiv gedruckte Zeit- und Ortsangaben an. Wechsel zwischen auktorialer und personaler Erzählweise sind undurchsichtig, weil das Versprechen angekündigter Perspektivwechsel allzu häufig nicht eingelöst oder durch eingeschobene Passagen aufgelöst werden. So fließen Sätze, Absätze und ganze Textblöcke zusammen, der Satzbau wird Teil der Werkkomposition, die Werkkomposition Teil der Syntax.

Form und Inhalt entscheiden über die Qualität eines Textes. Bergs neuer Roman stößt ab wegen seines grausamen Inhalts, seines absurden Realismus, seines ins Unmenschliche abgedrehten Brutalismus. Die Sprache und die Komposition finden wir im besten Falle interessant. Bei der Beurteilung von GRM vergaßen wir bisher aber etwas Wichtiges. Aristoteles’ Poetik und die Ars poetica des Horaz fordern es ein und machen es vor: Es zählt nicht nur Form und Inhalt, sondern auch die Verbindung zwischen Form und Inhalt. Sibylle Berg gelingt dies nun in so aufsehenerregender Weise, dass ihre Leserschaft nicht nur über die oben beschriebenen Mängel hinwegsehen, sondern diese gar als Teil eines umfassenden Programms auffassen wird. Die abgewürgte Sprache und die zerrissene Komposition des Romans fangen den dargestellten Zorn, die Verzweiflung und die Lethargie der portraitierten Gesellschaftsschichten so präzise ein, dass daraus ein literarisches Ereignis von bizarrer Schönheit entsteht. So wird der rote Wälzer zu einem Ziegelstein in den Händen der Kämpferinnen und Kämpfer gegen eine gefühlslose Welt des Kapitals, der Macht und der Gewalt.

Mit GRM im mentalen Gepäck läuft es gut für die Menschheit.

Sibylle Berg: GRM Brainfuck
KiWi 2019
640 Seiten / 25 Euro

Foto: Neypomuk-Studios / pixabay.com

2 Kommentare zu „„Es läuft gut für die Menschheit“ – Sibylle Berg: GRM. Brainfuck

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