Von Pascal Mathéus
Nicht viele Romane tragen der Allgegenwärtigkeit des Internets so gründlich Rechnung wie ‚Pixeltänzer‘. Es gibt heute nicht mehr das Leben auf der einen und das Internet auf der anderen Seite. Beide Sphären durchdringen sich ganz und gar. Berit Glanz’ Debütroman handelt von dieser Verschränkung und von den sich daraus ergebenden veränderten Bedingungen für das Geschichtenerzählen selbst.
Beta, eine Mitarbeiterin in einem Berliner IT-Start-Up, führt ein gleichförmiges Leben. Sie verdient gut, hat einen mäßig nervigen Chef und erträgt die Atmosphäre ewig hipper Betriebsamkeit mit einer Mischung aus Gleichmut und sanftem Zynismus. Im Laufe von Pixeltänzer wandelt sie sich jedoch von einer orientierungslosen jungen Frau zu einer leidenschaftlichen Leserin und dann zu einer Rebellin gegen die Öde der Gegenwart. Den Anstoß erfährt sie durch eine App. Statt sich weiterhin von Klingeltönen wecken zu lassen, lädt sich Beta Dawntastic. Jeden Morgen wird sie fortan von einem fremden Menschen aus dem Schlaf geholt, der sie von irgendwo auf dem Globus anruft. Die meisten dieser morgendlichen Telefonate sind wenig spektakulär. Wie spät ist es gerade bei dir? Was machst du? Dann aber erreicht sie ein Anruf, der sie nicht mehr loslässt.
Toboggan aus dem Silicon Valley hat nicht nur diesen sonderbaren Nutzernamen, sondern auch einen eigenartigen Avatar: „Ein anthropomorphes Wesen in einem körperbetonten Anzug, der mit rostroter und blasslila Farbe bemalt ist, dazu eine Maske mit übergroßen Augen und lange Drähte, die aus der Taille und dem Kopf des Wesens ragen.“ Beta fragt am Schluss des auf drei Minuten begrenzten Gesprächs nach der Bedeutung dieses Bildes, doch der Fremde erklärt nur: „Es hat etwas mit meinem Nutzernamen zu tun. Vielleicht findest du es heraus?“ Damit endet das Telefonat und die Spurensuche beginnt. Da Google keine Antwort liefert, versucht sie die Aufmerksamkeit von Toboggan mit einem Blog auf sich zu lenken. Er beißt tatsächlich an und antwortet, indem er die ergreifende Geschichte der Frau hinter der Maske erzählt.
Von da an wechseln sich die Passagen, in denen Beta vornehmlich aus ihrem Job berichtet, mit den Episoden aus dem Leben der Tänzerin Lavinia Schulz ab. Schulz, die von 1896 bis 1924 lebte, versuchte mit ihren expressionistischen Ganzkörpermasken Anklang zu finden. Ihr kurzes Leben war geprägt von ihrem Freiheitsdrang und dem unbedingten Willen zu Kunst. Aber auch von existenzieller Not und den Banalitäten des Elends.
Toboggans Geschichten fesseln den Leser des Romans genauso wie sich Beta von ihnen faszinieren lässt. In den Antworten, die sie dem Geschichtenerzähler via Blog zukommen lässt, hakt sie nach und reflektiert über die Unterschiede zwischen der Gegenwart und den Lebensbedingungen, denen sich junge Künstler am Anfang des letzten Jahrhunderts ausgesetzt sahen. Ergänzt werden sie durch Videos, Fotos und historische Dokumente, die über Links zu erreichen sind. Dadurch wird Pixeltänzer zu einer multimedialen Erfahrung.
Soweit die komplexe und klug erdachte Struktur des Romans. Sie allein macht das Buch schon zu einem bemerkenswerten Ereignis. Denn trotz seiner vielschichtigen Anlage, wirkt es niemals künstlich. Alles ist überaus gekonnt miteinander verzahnt. Allein, wenn Beta Toboggans Beiträge allzu ausdrücklich lobt, droht sich leises Schamgefühl einzuschleichen, weil sich die Autorin letztlich selbst auf die Schulter klopft.
Doch viel stärker sind die Reize dieser klugen Konstruktion: In ihr wird nämlich Wesentliches über unsere Gegenwart zur Sprache gebracht. Beta – und wiederum tut es der durch die Links bereits ins Netz gegangene Leser ihr gleich – recherchiert permanent die Geschichte der realen Lavinia Schulz im Internet, während die Version Toboggans die Leerstellen durch einfühlsame Fiktionen füllt. Die Geschichte büßt dadurch aber gerade nichts ein. Ihre Intensität wird durch den Abgleich von Realität und Fiktion sogar noch erhöht.
Um Lavinia näher zu kommen, sucht Beta die Schauplätze ihres Lebens auf. Dabei macht sie eine aufschlussreiche Erfahrung: Die Realität lässt sich nicht immer mit der Geschichte in Übereinstimmung bringen. Zuweilen erzeugen ihre Recherchen im Netz größere Intimität zu Lavinia, als dies die Realität ermöglichen könnte. Manchmal hält aber auch die Wirklichkeit noch eine Überraschung bereit, die es wert ist, erfahren zu werden. Einen Vorrang kann keine der Wirklichkeitsebenen beanspruchen.
Sprachlich ist der Roman weniger ambitioniert. Es wäre ehrlich gesagt sogar leichter, verunglückte Sätze zu zitieren, als Wendungen zu finden, die so schön oder so pointiert wären, dass man sie gerne in Erinnerung behielte. Immerhin bringen die Geschichtenfragmente von Toboggan sprachliche Abwechslung. Ihr konzentrierter, eleganter Erzählton wird als wohltuender Gegensatz zum mitunter allzu aufgekratzten Plauderton von Beta empfunden. Doch man verzeiht es dem Buch gerne. Erstens, weil die Sprache von Beta glaubwürdig ist und zweitens, weil es eine Vielzahl anderer Aspekte gibt, die davon unabhängig sind. Pixeltänzer lebt von seinem Thema und von der Fähigkeit der Autorin, Spannung zu erzeugen. Obwohl das Buch deshalb auch wahnsinnig unterhaltsam ist, wird aus ihm dennoch kein reiner Unterhaltungsroman. Dazu ist die Auseinandersetzung mit den Themen zu tiefgründig und die Entwicklung der Heldin zu komplex.
Während auf der formalen Ebene die ewig sich gleich bleibende inspirierende Kraft der Literatur beschworen wird, die in einer sich rasend schnell wandelnden medialen Umgebung mit ganz neuen Möglichkeiten spielt, erlebt die Heldin Beta auf der Handlungsebene diese Inspiration und setzt sie gegen die dröhnende Leere in ihrem Leben. Das Gefühl der bedeutungslosen Gegenwart fordert viele Schriftsteller heraus. Aber während beispielsweise Simon Strauß wehmütig auf die vergangene Größe schaut, bläst Berit Glanz zum Sturm auf die Gegenwart. Pixeltänzer ist ein mitreißendes Leseerlebnis, weil die Auseinandersetzung mit unserer Epoche radikal gesucht wird. Der Roman ist ein wertvoller Beitrag zur dringend notwendigen Vermessung des Neulands Internet.
Berit Glanz: Pixeltänzer
Schöffling & Co. 2019
256 Seiten / 20 Euro
Foto:
Ein Kommentar zu „Die besten Geschichten schreibt das Internet – Berit Glanz: Pixeltänzer“