Im Kunstversteck – Eckhart Nickel: Spitzweg

Von Pascal Mathéus

Spätestens seit Spitzweg ist klar: Eckhart Nickel gehört zu den ganz großen deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Seine Prosa schert sich nicht um aktuelle Stilvorschriften. Durch ihren ins Altmodische ragenden Formwillen hat sie vielmehr etwas Zeitloses, das jedoch wiederum durch ihre Lässigkeit durchbrochen und in die Gegenwart geholt wird. Seine Romane sind unheimlich raffiniert gebaute Kunstwerke von erhabener Schönheit. Sie sind Ergebnisse einer tiefschürfenden Beschäftigung mit den großen Fragen des Lebens. Dank großer literarischer Könnerschaft wirkt dies jedoch beinahe mühelos. Wie macht er das?

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Abiturienten sind dankbare Romanfiguren. Sie sind noch jung genug, um etwas von der Welt zu wollen und dabei inbrünstig zu irren, gleichzeitig aber – wenigstens dem Klischee nach – klug und gebildet genug, um diese Gemengelage so zu versprachlichen, dass dabei im besten Falle etwas herauskommt. Eckhart Nickel interessiert sich in Spitzweg weniger für den hormonell-amourösen Komplex (er kommt schon vor, aber eher als Nebenstrang), sondern vielmehr für die intellektuellen Ambitionen seiner Helden, die wie besessen in ihrer eigenen Welt der Kunst leben. 

Alltägliches bleibt dabei weitgehend außen vor. Buchstäblich ausgesperrt ist der Alltag im „Kunstversteck“ des einen Protagonisten Carl, mit dem sich der namenlose Erzähler des Romans anfreundet. In seinem Elternhaus hat sich Carl eine versteckte Wunderkammer eingerichtet, die in zahlreichen Einlassungen in den Wänden all jenes birgt, was für die sublimere Art des Lebensgenusses benötigt wird: Plattenspieler, Hausbar, Tabak- und Räucherwaren. In seiner komplexen und selbst hochartifiziellen Mechanik ist dieser Rückzugsort eine verdichtete Allegorie für die uralte menschliche Technik, sich die Welt durch Kunstfertigkeit vom Leibe zu halten.

Sein Gegenstück findet das „Kunstversteck“ im Elternhaus der dritten Hauptfigur, Kirsten, in die der Erzähler verliebt ist. Da Kirstens Mutter an einer Allergie gegen „Kunstfasern“ und die „ganzen artifiziellen Zutaten im Essen“ leidet, lebt ihre Familie weitgehend isoliert in einem Haus, das „ein vollendet natürliches Ökosystem“ darstellt. Eine Pointe des Romans ist freilich, dass diese angebliche „Natürlichkeit“ gleichfalls durch die Raffinesse von Kirstens Vater gewährleistet wird, der das Haus mit zahlreichen Umbaumaßnahmen und technischen Kniffen modelliert hat, was „Natürlichkeit“ mithin als einen der künstlichsten Zustände überhaupt markiert.

Der Roman zeichnet sich durch eine genau abgemessene Mischung von Handlung und Reflexion aus. Beide Sphären werden anschaulich durch das höchstmögliche Maß an Präzision. Die im Wortsinn gewählte Sprache ist schlichter Ausdruck des Bedürfnisses, Gedanken und Welt so differenziert beschreiben zu wollen, wie es nur eben möglich ist. 

Worin liegt dann der Unterschied zur Philosophie, könnte man fragen? In der Erzählkunst Eckhart Nickels, der noch die komplexeste Kunstbetrachtung mit lässiger Hand in sein Erzählgewebe hineinfügt und dadurch beglaubigt. Gedankenströme und Ereignisberichte werden mit großer Eleganz verbunden, die eine direkte Folge ausgezeichneter Sprachbeherrschung ist: „In diesem Moment meiner Reflexion war ich vor Kirstens Haus angekommen, und als ob sich die Schwere meiner letzten Gedanken vollständig in meinen Arm verlagert hätte, schaffte ich es kaum, den schwarzen Klingelknopf aus Metall ganz durchzudrücken.“

Obwohl sich einschlägige Passagen finden („Sein Referat ‚Ein gerade noch rechtzeitiger Aufruf zur Anonymisierung der Kunst‘ war eine verbitterte Abrechnung mit der Gegenwart“), wäre es ein Missverständnis, Spitzweg als Verdammung unserer Zeit zu lesen. Carl, Kirsten und der Erzähler wären mit ihrer Kunstbesessenheit in allen Zeiten Außenseiter gewesen. Es geht viel um die Verwandtschaft der Künstlerseelen durch alle Generationen und Epochen hindurch. Ärgerlich an der Gegenwart erscheint nur ein aufgesetztes Pseudoverständnis von Kunst – die Entsprechung eines falschen Verständnisses von Natürlichkeit –, das den Effekt und die Aktion zugunsten von Ausdruck und Bedeutung bevorzugt. Für diese Art marktschreierischer Gegenwartskunst steht die Gruppe um den Klassenclown Georg Klotz. Sie repräsentiert das Gewöhnliche, das Carl, Kirsten und der Erzähler fliehen wollen, weil sie „unter der schmerzlichen Abwesenheit des Besonderen“ leiden.

Dass dieser Elitarismus trotz seiner tief empfundenen Ernsthaftigkeit etwas Belächelnswertes hat, macht Nickel deutlich. Sätze, die dem einen oder anderen Leser durchaus over the top vorkommen könnten, sollen wohl doch die Weltfremdheit des Romanpersonals illustrieren. Wenn der Erzähler etwa von der Fassade von Carls Elternhaus berichtet, „[i]n sparsam gesetzten Details schien klar die Vorliebe des Architekten für die Schlichtheit des dorischen Stils durch“, bietet sich eine Lesart an, die dem sanft-ironischen Ton Rechnung trägt. Dieser Ton verurteilt die Sehnsüchte der Jugendlichen nicht, bewahrt aber vor naiver Idealisierung.

Auf der Ebene der Handlung macht Nickel schließlich deutlich, wie zweifelhaft die aufgetürmten Theoriegebäude des selbsternannten Hagestolzes Carl sind und wie sehr sie durch die Realität desavouiert werden. Statt in seinem Kunstversteck zu bleiben, wie es Carls Plan für eine Racheaktion an einer Lehrerin gewesen ist, nimmt Kirsten ihre Angelegenheit selbst in die Hand und inszeniert eine hintersinnige Performance, deren Publikum Carl, der Erzähler und ein unbescholtener Museumsaufseher unfreiwillig bilden. 

Eine Rehabilitation der Gegenwartskunst? Vielleicht. In jedem Fall aber eine Emanzipation von der Totalität der klassischen Form und ein Plädoyer für den spielerischen Ernst im Umgang mit dem schönsten und urmenschlichsten Vermögen, das auf der Welt existiert: der Künstlichkeit. 

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Eckhart Nickel: Spitzweg
Piper 2022
256 Seiten / 22 Euro

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Foto: DIRECTMEDIA / wikipedia.org

 

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