Von Pascal Mathéus
Muss man sich individuelle Erfahrungen leisten können? Nadire Biskin baut ihren Debütroman jedenfalls auf dieser These auf. Und sie scheint davon so überzeugt zu sein, dass sie pädagogisch auf ihr Publikum im Sinne dieser Einsicht einzuwirken versucht. Dabei kann schwerlich ein guter Roman herauskommen.
Wenn der moderne Roman das Individuum, sein Streben und Scheitern, sein Glück und sein Unglück, sein Schicksal und seinen Kampf mit der Gesellschaft zu Thema hat, dann handelt es sich bei Nadire Biskins Debütroman um einen erheblichen Bruch mit der Tradition. Statt von individuellen Erfahrungen zu erzählen, hat Biskin den Anspruch, die von der Gesellschaft produzierten strukturellen Ungerechtigkeiten aufzeigen zu können, die für die schlechte Behandlung eines Teils dieser Gesellschaft verantwortlich zu machen seien. Gemeint sind Migranten und ihre Nachkommen sowie die noch prekärer gestellten Flüchtlinge, die die jüngste Gewalteskalation im Nahen Osten nach Europa geführt hat.
Die 1987 in Berlin geborene Autorin will uns den Spiegel vorhalten, das macht sie schon im Titel deutlich. Insofern hat ihr Buch womöglich mehr mit jenen „ermahnende[n] und belehrende[n] Schriften (Wikipedia)“ zu tun, die man im Mittelalter und der Frühen Neuzeit Fürstenspiegel nannte. Dazu hat sie sich eine Heldin namens Huzur erdacht, die vieles mit ihr selbst gemein hat; die wie sie im Wedding als Kind türkischer Einwanderer aufgewachsen ist, sich angepasst hat, um studieren und als Lehrerin arbeiten zu können.
Weder in der Türkei, wo der erste Teil der Handlung spielt, noch in Deutschland fühlt sie sich zugehörig. Die daraus resultierende Wut staut sich im Laufe des Romans auf. Aus der sicheren Überzeugung, das Richtige zu tun – sehr explizit steht dafür ein Flüchtlingsmädchen, das Huzur bei sich aufnimmt –, redet sie der privilegierten Mehrheitsgesellschaft ins Gewissen.
Bücher wie dieses sind in der Gegenwart gar nicht selten. Moderne Fürstenspiegel wollen ihre Leserschaft auf internalisierte Vorurteile aufmerksam machen, möchten und sie dazu anhalten, „ihre Privilegien zu checken“. In Reaktionen auf solche Bücher liest man häufig von dankbar-erschrockenen Lesern, die sich „ertappt“ fühlen, weil Verhaltens- oder Sprechweisen in bestimmten Situationen präzise evoziert und einem dadurch endlich „die Augen geöffnet“ worden seien. Leider vertraut die Autorin ihren Möglichkeiten beim Hervorbringen solcher Effekte so wenig, dass sie die korrekte Verhaltensweise stets noch einmal explizit benennt. Das Substantiv, das den Effekt, der sich bei dieser Vorgehensweise einstellt, am besten beschreibt, lautet: Penetranz.
Gerade im Vergleich mit den guten Romanen in letzter Zeit, die sich ein ähnliches Thema vorgenommen haben, muss das Urteil über Ein Spiegel für mein Gegenüber ungünstig ausfallen. Identitti von Mithu Sanyal wartet etwa mit einer Protagonistin auf, die sich in ihrer Wut durchaus mit der von Huzur messen kann, deren Perspektive aber durch zahlreiche Widersprüche, zusätzliche Verständnisebenen und nicht zuletzt durch Humor gebrochen wird. Dagegen wirkt das allersimpelste Schwarz-Weiß dieses Romans dürftig.
Seine Feindbilder sind auch einfach zu klischiert. Von „Seglerschuhe[n]“, „Poloshirt[s]“ und „dem roten Pullover auf seinen Schultern“ ist da die Rede. Und durch den Schillerpark spazieren die biodeutschen Berliner angeblich auch heute noch „im Sonntagsstaat“. Wäre man von der eigenen Ideologie nicht dermaßen überzeugt, müsste man sich beim Ausmalen seiner Gegner etwas mehr Mühe geben.
Zuweilen versucht das Buch zwar durchaus, Erfahrungen und Gefühlszustände zu poetisieren. In diesen Passagen hat es denn auch seine stärksten Seiten. Doch auch bei diesen Versuchen bleiben Fragen offen. Wie verhält es sich zum Beispiel mit diesem Bild: „Ich spreize meine Beine zu einem Spagat zwischen zwei Stühlen und versuche, die Stühle auf diese Weise näher zu rücken, bis ich gerade auf ihnen stehen kann.“ Ist das poetisch oder doch eher… gespreizt. Dient hier die Sprache der Anschaulichkeit oder verunklart die Beschreibung dieser einigermaßen komplexen Turnübung eher den Sachverhalt?
Wenn man über das obige Bild vielleicht streiten könnte, fällt das Urteil bei folgendem Räsonnement leichter: „Ihr ist aufgefallen […], dass Mädchen die auf Ponys reiten wollen, meistens Mädchen mit Ponys waren“, berichtet Huzur einmal. Hier wird das Spiel mit der Sprache nun endgültig zur scheinpoetischen Pose. Eine ebensolche Pose ist es, ein solches Buch Roman zu nennen.
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Nadire Biskin: Ein Spiegel für mein Gegenüber
dtv 2022
176 Seiten / 20 Euro
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Foto: scottwebb / pixabay.com