Von Meike Bogmaier
Der Sammelband ‚Die Märchen‘ von Michael Köhlmeier ist bereits etwas älter als ein Jahr, doch die Geschichten darin sind schon jetzt zeitlos. Zu Weihnachten eine Sammelkiste voll von abenteuerlichen Geschichten und erstaunlichen Bildern.
Mit Die Märchen gibt der österreichische Schriftsteller erneut seiner Vorliebe für spannende Sagen, klassische Geschichten und alte Märchen nach, der er bereits in seinen Hörbüchern, geschriebenen Werken und Radioauftritten Ausdruck verlieh. Nur dass dieses über 800 Seiten dicke Buch nicht die klassischen Märchen enthält, die wir alle bereits kennen: Keine Nacherzählungen der Gebrüder Grimm oder von Hans Christian Andersen. Auch Wilhelm Hauff ist in diesem Buch nicht zu finden, denn Michael Köhlmeier hat zu seinem 70. Geburtstag seine eigenen Märchen veröffentlicht.
Ganze 151 Märchen hält das dicke Buch zum Lesen und Vorlesen bereit. Es sind Geschichten über Ritter, Teufel, sprechende Tiere und über alles, was das Märchenherz begehrt. Manche davon sind etwas unheimlich, beinahe schon gruselig, andere sind lustig und wiederum andere herrlich schnulzig und romantisch. Es lassen sich auch solche Geschichten finden, bei denen man begierig die nächste Seite aufschlägt, um zu erfahren wie es weiter geht, und dann überrascht feststellen muss, dass das Märchen bereits zu Ende ist. Die sprichwörtliche Moral von der Geschicht’ muss der Leser daher selbst erkennen, denn Köhlmeier präsentiert sie nicht auf einem Silbertablett.
Es gelingt ihm, Aktuelles sowie kürzlich Vergangenes in seine Märchen einzubetten. So erzählt die Geschichte des „Ripp vom Winkel“ von verbotenen Radiosendern im zweiten Weltkrieg und von der Besetzung hochrangiger Positionen im Land durch Ex-Nazis nach dessen Ende.
Jede der einzigartigen Geschichten wird von einem Bild begleitet. Nikolaus Heidelbach hat Die Märchen illustriert. Die kleinen, rar gestreuten Abbildungen gönnen dem Leser eine Pause, ohne den Faden der Geschichte verlieren zu müssen. Wer sich die Zeit nimmt, die schönen Zeichnungen zu betrachten und die verspielten Details zu entdecken, kann sich so einen imaginären Film zum gelesenen Märchen gestalten.
Die Kombination aus spannenden Kurzgeschichten und beflügelnden Bildern hält den Leser gefangen. Schnell sind vier, fünf, sechs Märchen verschlungen und eine Stunde vergangen. Als Vorleser hat man es da einfacher. Es gilt lediglich, sich für eine der zahlreichen Geschichten zu entscheiden. Ist diese beendet, kann das Buch wieder zugeklappt werden. Wie es für Märchenbücher typisch ist, bedürfen auch die Geschichten dieses Bandes keiner chronologischen Reihenfolge. Im Verzeichnis am Ende des Buches kann der Titel ausgesucht werden, der für den Moment am meisten reizt und beispielsweise genau in der Mitte mit „Maria im Schatten von Lockenhaus“ begonnen werden.
Alles in allem hat Michael Köhlmeier eine Sammlung an Märchen geschaffen, die ohne Weiteres mit den alten Klassikern mithalten kann. Für Jung und Alt lassen sich nicht nur Geschichten darin finden, sondern auch immer eine Moral, die jedoch ab und an erst beim zweiten Lesen ersichtlich wird. So soll es bei Märchen jedoch auch sein. Geschichten, die nach dem ersten Erzählen ihren Zauber verlieren, werden selten weitererzählt. Mit leicht verständlichem Stil, einem schelmischen Augenzwinkern und einer gruseligen Erzählstimme lässt jede der Geschichten von Köhlmeier den jungen Leser gebannt den Atem anhalten, während die etwas älteren von uns vielleicht ein Lachen unterdrücken müssen, um weiter mit dem nötigen Ernst vorlesen zu können.
Dieses Buch ist absolut empfehlenswert für alle Märchenfreunde, solche, die dies einmal werden wollen und ebenso für jene, die noch von Märchen überzeugt werden müssen. Für jeden ist etwas dabei. Vor allem ist es schön, zur ehemals kalten Jahreszeit bei Tee und Keksen mal wieder ein Märchenbuch zu lesen, das man noch nicht auswendig kennt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann…
Michael Köhlmeier: Die Märchen
Hanser 2019
816 Seiten / 58 Euro
Foto: