Gefangen im eigenen Leben – Alexa Hennig von Lange: Die Wahnsinnige

Von Anna-Lena Deckers

Seit ihrem Debüt-Roman ‚Relax‘ (1997), mit dem sie sich als neue weibliche Stimme in der deutschen Popliteratur etablierte, schreibt Alexa Hennig von Lange fast jedes Jahr ein neues Buch. Jugend- und Kinderliteratur, Gesellschaftsromane, ein Sachbuch und ein Theaterstück. Ihr jüngstes Buch ist der historische Roman ‚Die Wahnsinnige‘. Eine Anregung zur Beschäftigung mit drängenden Fragen von heute.

Hauptperson dieses Romans ist Johanna von Kastilien (Johanna I. von Kastilien, genannt Johanna die Wahnsinnige, * 6. November 1479 in Toledo; † 12. April 1555 in Tordesillas), Kronprinzessin des spanischen Weltreiches, die der Fremdbestimmung durch ihre Familie sowie ihrem Schicksal entgehen und selbstbestimmt ihren eigenen Weg wählen will. Allerdings tut sich die junge Frau mit ihrer Rolle in einer von der Mutter und den Männern dominierten Welt schwer. Sie ist auf der Suche nach Verbundenheit zu ihrem Umfeld und kämpft zugleich gegen die inneren Zustände des Gefangenseins und der Beengung: Hervorgerufen durch die Ignoranz ihrer Nächsten und der Welt gegenüber ihren innersten, tiefsten Bedürfnissen fühlt sie sich allein gelassen und unfrei. 

Johannas Mutter, der Königin von Spanien, die mit eiserner Hand über ihr Reich herrscht, die Inquisition vorantreibt und Ungläubige auf Scheiterhaufen verbrennen lässt, sind Johannas regelmäßige Wutausbrüche ein Dorn im Auge. Damit sie zur Vernunft kommt, wird Johanna in der kastilischen Festung La Mota eingesperrt. Sie soll beten, die Beichte ablegen und sich disziplinieren. 

Für Johanna sind ihre Wutausbrüche der einzige Weg, sich zur Wehr zu setzen. Sich gegen eine Welt zu stellen, deren Grausamkeit sie kaum erträgt und in der sie keine Herrscherin sein will. Der Zorn ist ihr Ventil, und ein kleines bisschen genießt sie es sogar, dass ihr Umfeld Angst vor ihren Ausbrüchen hat – entzündet diese Erfahrung doch einen Funken an Kontrolle und Selbstbestimmung in ihrem Leben. Das einzige jedoch, das Johanna zu diesem Zeitpunkt in ihrem Leben tatsächlich kontrollieren kann, ist die Nahrungsaufnahme. So hungert sie, um zumindest die Gewalt über ihren eigenen Körper zu behalten.

Die Autorin nimmt die Perspektive der historischen Figur ein und begleitet Johanna ganz nah als personale Erzählerin. Diese steht Johanna sehr nahe und erlaubt uns als Leser, an den richtigen Stellen auf Distanz zu gehen. So gelingt es der Autorin, Verständnis für Ihre Hauptfigur zu schaffen, erlaubt aber auch, den Posten des Beobachters nicht verlassen zu müssen. 

Johanna kann sich aus der Gefangenschaft der Mutter lösen und kehrt zu ihrem Ehemann nach Brüssel zurück. Ihren Plan, Philipp zu vernichten, verwirft sie bald darauf – meint sie doch eine Verbundenheit zu ihrem Ehemann wiedergefunden zu haben, die sie bereits verloren glaubte. Das Ehepaar erlebt gute Zeiten, schlechte Zeiten, bis die Nachricht vom Tod der Mutter sie erreicht. Der Kampf um die Macht beginnt. Johanna muss sich nun gegen den eigenen Vater sowie ihren Ehemann behaupten.

Philipp will sie für unzurechnungsfähig erklären lassen, um den Thron im Alleingang zu erobern. Auch er hält sie mehrere Monate gefangen, damit sie seine Pläne nicht durchkreuzen kann. Es folgen Demütigung, Verleumdung und Intrigen: Johanna erhält ihren Beinamen „die Wahnsinnige“. Waren ihr die Wutanfälle in der Vergangenheit insofern ein gewisser Spaß, als sie damit andere kontrollieren, ihnen Angst einjagen konnte, so muss sie nun feststellen, dass sie keinerlei Kontrolle mehr über ihren eigenen Ruf hat. Um es mit Philipps Worten auszudrücken: „Nun aber ist ein Bild von dir in der Welt, das nur schwer zurückgenommen werden kann“. Johanna schafft es, sich trotz ihres Wunsches und ihres Suchens nach Nähe und Verbundenheit von dem ihr so nahestehenden Mann zu lösen. Sie verfolgt ihren eigenen Weg, an allen Intrigen vorbei, immer weiter Richtung Thron.

Zugegeben, die Erzählung erinnert stellenweise an den Verlauf einer Telenovela: Mal ist die Mutter die Böse, dann der Vater, der Ehemann und schließlich (wie einem Brief an eine ihrer Töchter zu entnehmen ist) der älteste Sohn. Johanna ist immer demjenigen zugeneigt, der ihr momentan am wenigsten Böses will. Die Autorin bringt zwar verschiedene aktuelle Themen in diesem Roman unter, einige kommen aber eher flach daher: So fordert Johanna die „Neuordnung des altbekannten Verhältnisses zwischen Mann und Frau“. Ihre maurischen Dienerinnen erzählen die Geschichte eines Kriegers, der von seiner Mutter folgendes Lebensmotto übernommen hat: „Weine wie eine Frau um das, was du nicht wie ein Mann verteidigen konntest“. Themen wie Emanzipation und Sexismus werden also oberflächlich angesprochen, aber nicht tiefgreifender eingebunden.

Und doch treffen die Fragen, die die Autorin aufwirft, den Kern verschiedener aktueller öffentlich diskutierter Themen, wodurch der Roman zu einem lesenswerten Buch wird: Eine Frau, die der Fremdbestimmung entgehen und selbstbestimmt ihren eigenen Weg wählen will, ihr eigenes Leben leben möchte. Alexa Hennig von Lange schafft es mit diesem historischen Roman, Fragen zu stellen, mit denen sich wohl viele junge Erwachsene beschäftigen. Dabei dienen Glaube, Beichte, Bibelverse und Bilder aus dem alten Testament sowie das historische Setting eher dem Dekor bzw. fungieren als Gewand, in das die Autorin aktuelle Fragen hüllt. Die moderne und eher zeitgemäße Sprache der Autorin bildet einen Kontrast zu diesem historischen Setting und erlaubt dem Leser einen mühelosen Transfer der angesprochenen Themen in die heutige Zeit. Außerdem gelingt der Autorin mit ihrem Roman in gewisser Weise eine Umdeutung der geschichtlichen Figur, die uns in der Überlieferung als „die Wahnsinnige“ vorgestellt wird, indem sie das Urteil über Johannas Geisteszustand dem Leser überlässt.

Ist nicht eine Essstörung, wie sie bei Johanna beschrieben wird, auch heute, gerade für junge Menschen, ein Symptom der (Selbst-)Kontrolle im Hinblick auf die Überforderung mit der Welt, dem eigenen Leben, der eigenen Aufgabe? Können wir uns so einfach von Menschen lossagen, denen wir uns im Grunde unseres Herzens verbunden fühlen? Gehen wir konsequent unseren Weg oder lassen wir uns gerne davon abbringen, wenn sich eine bequemere Option anbietet? Lauter brandaktuelle Themen für heutige Generationen, denen so unendlich viele Möglichkeiten offenstehen. Ein Buch, das sich zu lesen lohnt, weil es gerade durch das Genre des historischen Romans einen ungewohnten Zugang zu diesen Themen bietet.


Alexa Hennig von Lange: Die Wahnsinnige
DuMont 2020
208 Seiten / 20 Euro

Foto: Pixels / pixabay.com

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