Atemlos durch die Welt | Zeit | Sprache – Bov Bjerg: Deadline

Von Pascal Mathéus 

Dieser Roman ist genauso stressig wie die Welt, in der er entstanden ist. Genauso stressig und genauso zynisch und lustig, verzweifelt und traurig. Der neugegründete Kanon Verlag hat in seinem ersten Programm den weitgehend unbekannten Debüt-Roman von Bov Bjerg neu herausgebracht. Das ist ein Glück, denn Deadline bietet die vielleicht zutreffendste Beschreibung unserer beschleunigten Welt.

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Ferien sind dazu da, um zur Ruhe zu kommen. Jeder weiß, dass das ein Witz ist. Der Anlass für Paulas Heimatbesuch markiert eine Zäsur, bietet aber keine Zeit zum Luftholen. Er reiht sich ein in ihren Alltag, weil über allem ihr spezifischer Blick auf die Welt liegt. Ihre déformation professionelle rührt vom Übersetzen her: Weil sie Gebrauchsanweisungen übersetzt, verfügt sie über erstaunliche Detailkenntnisse in allen möglichen technischen, medizinischen und sonst wie praktischen Bereichen. Zudem ragen die Schwierigkeiten (und Vorzüge) ihres Jobs in den Alltag hinein, wenn sie häufig verschiedene Bezeichnungen für ein Phänomen, einen Sachverhalt oder ein Gefühl bei der Hand hat. 

Paula lebt in Amerika und kehrt für die Dauer des kurzen Romans in ihr Heimatdorf zurück. Der Anlass ist so bedeutsam wie bürokratisch: Es geht um die Auflösung des Grabs ihres verstorbenen Vaters. Am Tag ihrer Ankunft erleidet die Mutter einen Schlaganfall. Bevor auch sie stirbt, bekommt sie noch den 40. Geburtstag von Paulas Schwester mit. Paula schläft mit ihrem Schwager und fliegt wieder nach Hause. 

Von der Begegnung mit Land und Leuten werden ihre Erinnerungen getriggert. Ihr Horizont reicht aus der hyperhektischen, digital beschleunigten Gegenwart bis in die Zeit zurück, in der ihr Vater noch mit schwerem Gerät und den eigenen Händen Grabsteine bearbeitete. Sie erinnert sich an eine Zeit, in der man noch „nicht im Netz“ war. Das heißt, man war in gewisser Hinsicht freier, aber aus heutiger Sicht hat man nie existiert, denn die Suchmaschinen spucken kein Ergebnis aus, wenn man nach den Namen aus dieser Zeit sucht.

Bjergs Roman schlägt ein mörderisches Tempo an und vibriert geradezu vor Sprachwitz und Intelligenz. Paulas Assoziationskaskaden fluten den eigenen Kopf. Wenn er sich nicht ohnehin vorher schon angefühlt hat wie der von Paula, weil er unter der demselben Zeitdruck heiß gelaufen ist, der Bjergs Heldin quält, dann tut er das spätestens nach der Lektüre. „Gut in der Zeit“ ist Paula, als sie einen Arbeitsauftrag kurz vor den Ferien noch abschließt. „Gut in der Zeit“, als sie sich auf den Weg zum Flughafen macht und überhaupt immer pünktlich. „Gut in der Zeit“ könnte aber auch heißen, dass sie sich gut an die Anforderungen ihrer Zeit angepasst hat. Sie geht das Tempo mit, obwohl sie daran zu Grunde zu gehen droht. In den Abgründen ihrer Familiengeschichte gibt es genügend Stoff, der sich durch Beschleunigung und Dauerfeuer zu verdrängen lohnt.

Paulas „Merkzwang“, ihre „Beobachtungs-, Benennungs-| Katalogisierungswut“ schlagen sich sprachlich in zumeist kurzen Sätzen nieder, die ungeheuer detailreiche Beschreibungen enthalten. Der vertikale Trennstrich ist ein immer wiederkehrendes Stilmittel, das Bjerg für eine Fülle von Differenzierungen nutzt. Für fast alles gibt es mehrere Ausdrucksmöglichkeiten: Man kann etwas gehoben oder umgangssprachlich ausdrücken, man kann etwas von weitem vielleicht nicht richtig erkennen, obwohl man so viel Wissen akkumuliert hat, kann man auf Vieles trotzdem keine präzise Antwort geben oder man sich kann sich einfach nicht entscheiden. Die Lücken, die durch die ungenaue Beschreibung der Welt entstehen, sind schmerzhaft: „Falsch und ungenau, das war das Gleiche“, stellt Paula fest. Wenn sie recht hat, könnte sie damit einen Grund für unsere immer depressiver werdende Welt benannt haben.

Dass das Buch trotz seines Verbleibens auf derselben Stilebene trägt und mehr als ein bloßes Experiment ist, liegt daran, dass der Leser den Ernst dieses ganzen Wahnsinns spürt. Unter der glitzernden Oberfläche von Stress, Leistung, Echtzeitkommunkation, Werbung und ungesundem Essen lauert eine Einsicht. Egal wie schnell wir davonlaufen: Die eigene Geschichte und der Tod werden uns einholen.

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Bov Bjerg: Deadline
Kanon 2021
176 Seiten / 22 Euro

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Foto: EDUIN / pixabay.com

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