Von Frau zu Frau – Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Von Anna-Lena Deckers

Eine junge Frau, die von Rostock in das Berlin der 1920er Jahre kommt, ihre Urenkelin die in einem ganz anderen Berlin – dem Berlin von heute – lebt und damit beginnt, ihre Familiengeschichte zu erforschen: Das ist der Stoff des Debütromans der Journalistin Alena Schröder. In ihrer sich über vier Generationen erstreckenden Familiengeschichte erzählt die Autorin von existentiellen Problemen, die individuell und universal zugleich sind.

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Senta kommt als junge Frau nach Berlin, ihre Tochter lässt sie bei der Schwägerin in Rostock zurück, die eine viel bessere Mutter für das Kind ist. Senta heiratet erneut und versucht immer wieder eine Beziehung zu ihrer Tochter aufzubauen. Doch so recht gelingen will ihr das nicht. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird es für ihren jüdischen Mann und dessen Eltern unmöglich weiter in Berlin zu leben. Sie flüchtet mit ihrem Mann nach Dänemark und später nach Schweden. Ihre Schwiegereltern werden 1942 deportiert und in Treblinka ermordet. 

Sentas Tochter Evelyn erlebt den zweiten Weltkrieg als junge Medizinstudentin nahe Rostock, hilft dort als Krankenschwester in einem Lazarett und baut sich nach Kriegsende ein Leben als Assistenzärztin auf. Ihren Lebensabend verbringt sie in einem Berliner Seniorenstift, wo die wöchentlichen Besuche ihrer einzigen lebenden Verwandten, ihrer Enkeltochter Hannah, das Highlight der Woche darstellen. 

Hannah dagegen lebt das Leben einer jungen, unabhängigen Frau, ist Akademikerin und promoviert in Germantistik. Aber auch sie sehnt sich nach einem anderen Leben. Promotionsstelle und Doktorarbeit hatten sich in Ermangelung anderer Ziele und Pläne irgendwie ergeben, und außerdem ist da noch ihr Doktorvater, mit dem Sie eine Affäre hat. Aber wonach genau sie eigentlich sucht, weiß Hannah nicht: „Alles, was ich mache, ist nur ein Ersatz für etwas anderes, von dem ich nicht weiß, was es ist.“

Jede der drei Frauen hat ihr eigenes Päckchen zu tragen und hadert mit ihrer Zeit: Senta sehnt sich 1920 nach einem eigenständigen, emanzipierten Leben in Berlin. Stattdessen wird sie schwanger, heiratet und findet sich in der Rolle der Mutter und Hausfrau überhaupt nicht zurecht. Bis sie sich scheiden lässt und einen Neuanfang in Berlin wagt.

Ihre Tochter Evelyn würde viel lieber ihrer Aufgabe und Bestimmung als Ärztin nachkommen, als sich zuhause um die Tochter zu kümmern. Dabei hatte sie sich auf das Baby gefreut und darauf, Mutter zu werden, wie viele andere junge Frauen Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie hatte davon geträumt ein Familienleben zu führen mit Kind, Freunden die zum Kaffee vorbeikommen und dem gemeinsamen Sonntagsfrühstück. Stattdessen wird sie als zu strenge Mutter wahrgenommen, ihre Art, Zuwendung und Liebe zu äußern, wird kritisiert. Keiner in ihrem Umfeld scheint anzuerkennen, dass sie ihr eigenes Leben aufgegeben hat.

Hannah nun sitzt vor einem leeren Dokument, das einmal ihre Dissertation werden soll, und hat überhaupt keine Idee, wie sie das eigentlich machen soll, diese Doktorarbeit schreiben. Da ist kein Stolz, keine Dankbarkeit oder Bewusstsein für dieses Privileg stattdessen fühlt sie sich orientierungs- und ziellos, hadert mit dem Leben. Sie fürchtet, nichts auf die Reihe zu bekommen und den Erwartungen nicht zu entsprechen. 

Während sich die Geschichten von Senta und Hannah kapitelweise abwechseln, verbindet Evelyns Geschichte beiden Erzählstränge miteinander und der Leser lernt sie sowohl als kleines, aufgewecktes Kind, als auch als 95-jährige alte Dame kennen, die vom Leben genug hat. Zentrales und verbindendes Element der beiden Zeitebenen sind die Gemälde aus dem Kunstvermögen der Familie, die ihnen durch Enteignung 1937 gestohlen werden und von deren Existenz Hannah im Zuge eines Restitutionverfahrens erfährt. Evelyn scheint die einzige zu sein, die Hannah eventuell Antworten auf ihre Fragen geben kann, doch Evelyn will mit alldem nichts zu tun haben. 

Alena Schröder beschreibt mit verschiedenen Sprachstilen, eingebettet in den Kontext ihrer jeweiligen Zeit, die Leben von drei Frauen und den Menschen, die sie auf ihrem Lebensweg begleiten. Ihre individuellen Herausforderungen stehen letztlich für die Auseinandersetzung mit dem Leben an sich – in all seiner Banalität und Komplexität zugleich –, sowie mit der höchst aktuellen Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. 

Der Roman ist durch und durch menschlich. Das gilt für die Beschreibungen von Begegnungen, zwischenmenschlichen Beziehungen, den Unterhaltungen, welche die Figuren führen, ihren inneren Dialoge, wie sie zweifeln oder absolut von sich überzeugt sind. Der Autorin gelingt es, die Menschen in ihrem Roman aus verschiedenen Perspektiven darzustellen und immer wieder fällt auf, dass Eigen- und Fremdwahrnehmung in vollkommen verschiedene Richtungen gehen. Außerdem gelingt es Schröder, das historische einzigartige Drama um den jüdischen Kunstraub mit einem zeitlosen Mutter-Tochter-Konflikt auf unterhaltsame und gleichzeitig zum Nachdenken anregende Art und Weise miteinander zu verknüpfen. 

Alena Schröder zeichnet mit diesem Roman eine Geschichte, in der wir uns als Leser wiederfinden können. Sei es als junge Akademikerin, die gar nicht so recht weiß, wohin ihr Leben sie bringen wird, als angesehener und gefeierter Professor der mit einer klassischen Midlife-Crisis zu kämpfen hat, als 95-Jährige, die mit dem Leben abgeschlossen hat oder als Enkelin, die Angst vor der Antwort hat, wenn sie den Großeltern die Frage stellt, ob sie Nazis waren oder nicht. Ein lesenswerter Roman.

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Alena Schröder: Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid
DTV 2021
368 Seiten / 22 Euro

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Foto: Laura Fuhrmann / unsplash.com

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