Pathos und Ironie – Interview mit Thomas Hettche

Von Pascal Mathéus und Clemens Hermann Wagner

Die Insel Hiddensee zu verlassen, ist niemals leicht. Dieses Mal war unser Abschiedsschmerz aber besonders heftig. Wir mussten nämlich just an jenem Donnerstag abreisen, auf den der Freitag folgte, an dem Thomas Hettche im Garten des Hauptmann-Hauses aus seinem jüngsten Roman Herzfaden lesen sollte. Zu schade, dass uns das entgehen würde, dachten wir, als wir am Mittwochmorgen Brötchen holen gingen. Doch welch Glück! Vor dem Inselbäcker saß Thomas Hettche Kaffee trinkend und rauchend und fand sich auch noch sogleich dazu bereit, mit uns über Literatur zu sprechen. Er berichtete uns von seinen literarischen Vorbildern, sprach von Ironie und Pathos und von der Komplexität des Erzählens.

Aufklappen: Wir treffen Sie auf der Insel Hiddensee, wo Gerhart Hauptmann seit 1929 ein Sommerhaus besaß. Verbindet Sie etwas mit diesem Schriftsteller?

Thomas Hettche: Ich wurde mit Thomas Mann literarisch sozialisiert, was meine vielleicht etwas ungerechte Sicht auf Hauptmann erklärt.

Das wäre die Perspektive auf Mynherr Peeperkorn?

Ja.

Diese sehr bewusste Großautorattitüde bei Hauptmann ist aus heutiger Sicht befremdlich. Etwa wenn er sich sehr bewusst als Nachfolger Goethes inszeniert.

Das hat Thomas Mann auch getan. Aber Mann war sich bewusst, dass wir alle Spätgeborenen sind und Aneignung und Nachfolge höchst problematisch sind. Ersehnt und unmöglich zugleich. Um die entsprechenden Figuren der Ambivalenz kreist ja sein ganzes Schreiben und daher ist er auch in diesem Punkt weniger naiv als Hauptmann.

Hauptmann scheint vor allem ziemlich ironiefrei zu sein. Das kann man schwer ertragen. Als Philipp Tingler neulich aufgezählt hat, welche objektiven Kriterien für gute Literatur zu gelten haben, hielt er Ironie für obligatorisch. 

Darüber ließe sich sprechen, wenn Herr Tingler nicht jenes arg simple popkulturelle Verständnis von Ironie hätte, das kaum mehr ist als die überhebliche Attitüde des coolen Bescheidwissers. Das hat mit der Thomas Mann’schen Ironie wenig zu tun, die ja immer ein Anlauf ist zum heiligen Ernst.

Wie meinen Sie das?

Seine Ironie ist jene der Romantik, für die unsere Distanz zu den Dingen der Welt etwas Tragisches hat. Die romantische Ironie bedauert, wie Kleist in seinem Marionettenspiel-Aufsatz schreibt, dass das Paradies durch unsere Reflektiertheit verriegelt ist, und will die Reise um die Welt machen, um zu sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Thomas Manns Romane sind solche Reisen. Der Doktor Faustus natürlich, aber noch deutlicher Joseph und seine Brüder mit seinem Maskenspiel von Mythos und dessen Destruktion. Das Ziel ist für Thomas Mann nie, alles in ironischer Beliebigkeit nebeneinander zu stellen, womit sich die Popliteratur begnügt, sondern den Leser zu ergreifen: Denken Sie nur an die Echo-Episode im Faustus! Sein Schreiben – wie etwa auch das von Musil, der mich lange sehr beschäftigt hat – versucht, eine glaubhafte Erzählung zu schaffen und dabei zugleich die Bedingungen dieser Erzählung offenzulegen.

„Distanz zu den Dingen der Welt“ – die Ostsee vor Hiddensee / Foto: privat

Wer hat sie literarisch noch beeinflusst?

Seltsamerweise habe ich jene Art von Präsenz dann vor allem bei amerikanischen Erzählern wiedergefunden, die man ja als Antipoden des Mann’schen Erzählens verstehen könnte, bei Cormac McCarthy und Raymond Carver, später aber auch bei so unterschiedlichen Autoren wie Juan Carlos Onetti, Dino Buzzati oder Pierre Michon.

Auf der einen Seite die Amerikaner, auf der anderen Musil und Thomas Mann: Also hier das Ideal der Verknappung, dort die Girlanden, die nicht enden wollenden Sätze und Romane. Aber beide verfolgen mit ihrem Ironiespiel ähnliche Ziele…

Ironiespiel?

Ist das keine Ironie? Dieses gleichzeitige Reflektieren und trotzdem Erzählen, obwohl man um die Problematik weiß.

Ich halte das ja für das größtmögliche Pathos, aber von mir aus können Sie es auch Ironie nennen (lacht).

Von der Romantik her könnte man es Ironie nennen. Diese Bewegung: Eine Setzung machen, etwas aufschreiben, vielleicht auch pathetisch sein und durch die Reflektion es halb wieder zurücknehmen oder auf die nächste Stufe heben.

Sie haben recht, das ist das Verfahren. Aber ist es ein Spiel?

Was ist es denn? Wir machen es uns womöglich etwas zu einfach, wenn wir uns unseren Hettche aus dem Stil der Amerikaner und der ästhetischen Theorie von Thomas Mann und Robert Musil zusammenbauen, oder?

Vielleicht (lacht). Aber vielleicht kommen diese beiden gegensätzlichen Erzähltraditionen ja bei der Frage nach der Konstruktion eines literarischen Textes überein.

Es geht Ihnen doch bei aller Verknappung auch um ein sehr detailreiches Schreiben, sehr um die Ausformung von Lebensgeschichten und Kontexten. Es kommen in ihren Büchern etwa Märchenstoffe und phantastische Figuren vor. Ist die Verzauberung der Welt ein Anliegen von Ihnen?

Verzauberung klingt so, als müsste man die profane Welt zum Leuchten bringen. Dieser Handke-Gestus widerstrebt mir zutiefst. Nein, die Welt ist verzaubert und was wir ihren Zauber nennen, ist unsere unauflösliche Verstrickung in sie. Es gibt den Blick auf die Phänomene, es gibt aber zugleich das mythische Reservoir, das wir zur Beschreibung dessen mitbringen, was wir sehen, und schließlich gibt es unsere Ratio. Wenn ich ein Ziel meines Erzählens nennen sollte, dann, die Komplexität dieser Rückkopplungen von Ereignis und Deutung nicht zu verkürzen, sondern zu entfalten. In Pfaueninsel etwa habe ich versucht, die verschiedenen Naturdiskurse des 19. Jahrhunderts zu erzählen, Erwartungen und Träume spielen dabei eine Rolle, der Gegensatz von Künstlich- und Natürlichkeit, aber auch das Fremde. Was haben etwa die Phantasmagorien des Orients mit der preußischen Landschaft zu tun, in der Pfaueninsel spielt? So etwas interessiert mich an historischen Figuren, wenn ich sie erzählerisch lebendig werden lasse. Es muss ästhetisch eingeholt werden, warum jemand etwas sagt.

Auch intellektuell, oder? Was bedeutet es in historischen Bezügen „ich“ zu sagen. Woher weiß ich überhaupt, was von mir kommt und was von außen.

Eben.

Da scheint aber immer noch der Foucault’sche Diskursbegriff durch, oder?

Stimmt schon. Während meiner Studienzeit im Frankfurt der 80er-Jahre war für mich einerseits die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie wichtig, vor allem mit Adornos Ästhetik, auf der anderen Seite die Texte der französischen Philosophen, die damals wie neu gelesen wurden, neben Foucault vor allem Lyotard und Derrida. Sich von so einer Prägung zu lösen, ist nicht ganz einfach (lacht).

Pascal und Clemens in der Dünenheide auf der Insel Hiddensee. Thomas Hettche trafen sie beim Inselbäcker in Kloster / Foto: privat

Sie haben sich dazu entschieden Literatur zu schreiben und nicht etwa Philosoph zu werden. Literatur hat im Gegensatz zur Philosophie etwas Umkreisendes, nie Definitorisches. Die Frage ist bloß: Wann endet dieses Spiel? Wann kann man sagen, jetzt habe ich die Phänomene soweit umrissen, dass ich sagen kann, es ist gut?

Ich würde es, wie schon gesagt, nicht Spiel nennen, was da geschieht. Der Begriff, der uns in diesem Gespräch noch fehlt, ist derjenige der Form. Die Reflexion ist in der Kunst nicht zu Ende, wenn der Gegenstand erschöpft ist, sondern sie endet, wenn die Form erfüllt ist. Der frühe Lukács von Die Seele und die Formen hat mich da sehr beeindruckt. Kunst bildet die Welt nicht ab, sondern liefert eine Übersetzung von Phänomenen in eine Form.

Gilt das gleichermaßen für ihre Essays wie für ihre literarischen Texte?

Ja klar. Ich habe ein großes Unbehagen angesichts der momentanen Konjunktur politischer Literatur, bei der die Erzählung immer nur Exempel eines richtigen Bewusstseins ist. Meine Profession ist die künstlerische Form und das gilt selbstverständlich auch für die Essays. Die Form eines Textes ist nicht einfach ein Gefäß, in das man etwas hinstellt, wie in eine Vase, sie ist Schönheit als Erkenntnis.

Wir fragen uns oft, wie es heute möglich ist, junge Menschen mit Literatur zu erreichen. Dabei kann sich schnell eine gewisse Frustration einstellen…

Also, ich bin ja schon völlig begeistert, dass ich hier auf Hiddensee sitze und mit zwei jungen Menschen über Literatur spreche. You made my day.

* * *

Zum Weiterlesen:


Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste
Kiepenheuer & Witsch 2020
288 Seiten / 24 Euro

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Thomas Hettche: Pfaueninsel
Kiepenheuer & Witsch 2014
352 Seiten / 19,99 Euro

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Thomas Hettche: Unsere leeren Herzen. Über Literatur
Kiepenheuer & Witsch 2017
208 Seiten / 20 Euro

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Foto: Joachim Gern

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