Unzählige fesselnde Fäden – Thomas Hettche: Herzfaden

Von Meike Bogmaier

Thomas Hettches neuester Roman fesselt den Leser mit einer packenden Geschichte über das Leben der Hannelore Oehmichen und deren Beteiligung an der Entstehung der Augsburger Puppenkiste, welche ihr Vater Walter Oehmichen 1948 gründete. ‚Herzfaden‘ irritiert, berührt und erinnert an die eigene Kindheit.

Ein Mädchen versteckt sich nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste auf einem geheimnisvollen Dachboden. Es flieht dorthin vor seinem Vater, denn es möchte nicht, dass er es weinen sieht. Auf dem Dachboden begegnet es den vielgeliebten Marionetten der Augsburger Puppenkiste und dem Geist von Hannelore ‚Hatü‘ Oehmichen. Aus diesem Treffen heraus entspinnt sich ein Abenteuer, in dessen Verlauf Hatü von ihrem Leben, ihrem Vater, dem zweiten Weltkrieg und der Entstehung des berühmten Theaters erzählt. Nur langsam setzt sich die Geschichte zu einem Ganzen zusammen, bis das Mädchen schließlich den nicht allzu bösen Kasperle besiegt und den Dachboden wieder verlassen muss, um sich seinen eigenen Dämonen zu stellen.

In dem Roman laufen viele Themenfäden zusammen und bilden eine breit gefächerte Geschichte, die von Trauer und Wut, über Herzklopfen, bis hin zu unbändiger Freude jedes Gefühl in ihren Lesern auslösen kann.

Das Mädchen, welches im ganzen Buch keinen Namen erhält, hat mit ihrem Vater das Theater besucht. Sie selbst hält sich für viel zu alt für Puppenspiele. Ihre Eltern leben getrennt und sie fühlt sich heimatlos und nicht zugehörig. Durch die Begegnung mit Hannelores Geist und dessen Geschichten aus dem Krieg lernt sie, dass Märchen keinesfalls nur für Kinder geschrieben sind. Jede Geschichte hat für jeden Menschen eine eigene Bedeutung. Sie bietet Trost, Hoffnung und eine Alternative zum eigenen vielleicht frustrierenden Leben. Für die Leser, die die Theaterstücke der Augsburger Puppenkiste kennen, wird das vor allem dann deutlich, wenn sie ihre Erfahrungen mit Li Si, dem Urmel, Kalle Wirsch und dem Kleinen Prinzen Revue passieren lassen, während diese ihren Auftritt im Buch haben. Jede dieser Figuren, jedes der Stücke hat Bedeutung. Auch für Hatü und ihren Vater Walter Oehmichen, der seinerzeit die Puppenkiste gründete. So ist beispielsweise der Kasperle, welcher für ein Millionenpublikum stets eine beliebte Figur war, für Hannelore selbst ein Leben lang eine Schreckensgestalt. Dies zeigt eindrucksvoll, dass jedes Stück, jede Geschichte, jede Figur für jeden Menschen eine andere Bedeutung haben kann.

Hettche erhebt, wie er auf den letzten Seiten von Herzfaden mitteilt, keinen Anspruch auf absolute Korrektheit der historischen Ereignisse, welche er in seinem Buch beschreibt. In erster Linie ist der Roman eine Geschichte, ein Märchen und doch wirken die zusammengewürfelten Fetzen aus dem Leben der Hannelore Oehmichen am Ende des Buches in sich vollständig. Gekonnt hat er einen roten Faden um sie gewoben und sie so verbunden. Hannelores Geschichte beginnt in den Anfängen des Kriegs, in ihrer Kindheit. Ihr Vater muss die Familie verlassen, ehemals freundliche nette Bürger werden ausgeschlossen und mit gelben Sternen versehen, Straßennamen werden geändert und die kleine Hatü kann nicht nachvollziehen, wieso das alles geschieht. Und doch wird sie durch ihre Lehrer und die unmittelbare Umgebung, durch eine Ideologie, derart beeinflusst, dass sie die erste Marionette, welche sie später schnitzt, aufgrund ihrer großen Nase gruselt. Auch das Mädchen hat Angst. Angst davor keine richtige Heimat zu haben und Angst ihre Trauer über die Trennung der Eltern zu zeigen. Hettche gelingt es Verbindungen herzustellen zwischen einer Kindheit von damals und einer von heute. Die Verwirrung von Kindern, die nicht verstehen warum Erwachsene Dinge so tun, wie sie sie nun mal tun, ist die Gleiche.

Thomas Hettche hat ein Werk geschaffen, dass die Leser in seinen Bann zieht. Voll und ganz. Zu Beginn mutet der Szenenwechsel zwischen den Geschichten Hatüs und den Sequenzen auf dem Dachboden etwas abrupt an. Allerdings, hat man sich erst an diesen Rhythmus gewöhnt, baut sich dadurch ein immenser Spannungsbogen auf. Die beiden Geschichten werden verwoben, verbinden sich miteinander und es lässt sich nicht sagen, ob man neugieriger auf das nächste Kapitel des Mädchens ist oder lieber weiter mit Hatü in die Vergangenheit eintaucht.

Herzfaden ist ein buntes Wollknäuel über das Erwachsenwerden, über die Bedeutung von Märchen und Geschichten für alle Menschen, über das Überwinden von Vergangenheiten, über Dinge, die man tut und besser nicht tut, über Rassismus und Krieg, über den Kampf den jeder Mensch alleine führt, über Liebe zu vielen Dingen und über das Aufwachsen heute und früher. Es ist ein Buch, das einen zum Lachen bringt und traurig macht, das in Schnipseln Hatüs Geschichte erzählt und doch unglaublich detailgetreu und genau ist. Vor allem ist Herzfaden allerdings eine liebevolle Hommage an eines der schönsten Theater seiner Zeit, die Augsburger Puppenkiste. Dieses Buch ist absolut lesenswert für jeden, der eine gute Geschichte zu schätzen weiß.


Thomas Hettche: Herzfaden
KiWi 2020
288 Seiten / 24 Euro

Foto: webandi / pixabay.com

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