Vom Leben und Kämpfen für ein Ideal, und der Enttäuschung – Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos

Von Jascha Feldhaus

Anne Weber bricht in ihrem neuen Buch ganz bewusst mit der Tradition, indem sie eine Heldin in den Mittelpunkt eines Epos stellt – ein echtes Novum, sind doch die bekanntesten unter ihnen zwar nicht ausnahmslos, aber doch vor allem voll mit männlichen Helden. Sie entfernt sich in diesem Epos auch vom mythologischen Stoff und erzählt stattdessen die Lebensgeschichte einer jungen Frau im 20. Jahrhundert. Anne Beaumanoir, die als Résistance- und FLN-Kämpferin sich gegen Unrecht und für die Befreiung einsetzt, gerät in die ambivalente Situation, erst als Volksheldin bejubelt und dann als Volksverräterin bestraft zu werden. ‚Annette, ein Heldinnenepos‘ berichtet vom Einstehen für ein Ideal und von den zahlreichen damit verbundenen Enttäuschungen.

Anne Beaumanoir, die Annette genannt wird, kommt 1923 im bretonischen Dorf Saint-Cast-le-Guildo zur Welt. Ihr Leben erscheint bereits vom Elternhaus aus vorgezeichnet zu sein: Ihre Mutter ist ein Mensch, der „sich über Unrecht heftig zu erzürnen“ weiß, und ihr Vater ist Sozialist und arbeitet, wie sich später herausstellen wird, als Spion für den britischen Geheimdienst gegen die Deutschen. Sie selbst entwickelt sehr früh einen Sinn für Ungerechtigkeit, als eine Lehrerin Schülerinnen offensichtlich zum eigenen Vorteil ungleich behandelt – nicht umsonst, wird rhetorisch gefragt: „Welche davon mag wohl die Bürgermeisterstochter sein?“

Annettes Weg führt zunächst zum Studium nach Lyon. Dort kommt sie als Jugendliche eher zufällig in Kontakt mit der Résistance. Sie wird angesprochen, übernimmt anfangs kleine Botengänge und rutscht dabei immer tiefer in den kommunistischen Widerstand. In ihrem Kampf gegen das Unrecht und die Besatzung nimmt sie auch die Gefahr auf sich, für ihr Handeln mit dem Tod bestraft zu werden: Sie nutzt ihre Informationen, um zwei jüdische Jugendliche vor einer ‚Säuberung‘ durch die SS in einem Pariser Stadtteil zu retten. Sie kennt die sicheren Verstecke der Résistance und ist gut vernetzt im Untergrund. Als junge Frau und Medizinstudentin wirkt sie unscheinbar, trotzdem gerät sie ins Visier der deutschen Besatzer, wird aber nicht von ihnen gefasst.

Für ihre Taten wird sie mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Außerdem nimmt sie nach der Befreiung eine wichtige Position in einer Art Gericht ein, wo sie über das Urteil von Kollaborateuren und Vorteilsnehmern von Nazideutschland mitentscheidet. Doch hier bemerkt sie bereits das erste Mal, dass die Ideale, für die sie eingestanden ist, wanken. Die politischen Machtkämpfe gehen jetzt erst richtig los, selbst in der eigenen Partei „geht es inzwischen mehr um Einfluss und Propaganda“ als darum, das Unrecht und die Ungleichheit zu bekämpfen. Deshalb schließt sie sich der FLN an, um für die Freiheit Algeriens zu kämpfen, wobei sie dort „nicht für ein Land, sondern für Ideen, Gleichheit und Selbstbestimmung“ einsteht. Und dafür wird sie 1959 in Frankreich trotz ihrer Heldentaten im zweiten Weltkrieg schließlich zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Doch sie kann aus Frankreich fliehen, geht ins Exil nach Tunesien und lässt ihre drei Kinder und ihren Ehemann hinter sich. Sie ist mittlerweile Ärztin und hilft den Kranken und Verletzten des Befreiungskampfs in Nordafrika, an der Grenze zu Algerien. Aber auch hier erlebt sie wieder, wie sie nach der erfolgreich erlangten Souveränität in das machtpolitische Gemenge rutscht, wie sich die einzelnen Splittergruppen im Ringen um die Macht blutig bekämpfen: „Beim FLN / wird auch gefoltert. Keiner kämpft nur für / Unabhängigkeit, es kämpfen alle auch um Macht.“. – Die Scheinheiligkeit der politischen Ordnung wird ihr bezeichnender Weise von der letzten französischen Soldaten in Algerien bestätigt: „Alle umringen Ben Belle / und schütteln ihm die Hand und sind geehrt / und haben offenbar vergessen, dass dieser Mann / vor kurzem noch als Terrorist und Staatsgefährder / in Frankreich im Gefängnis saß. So schnell geht das! / Das Amt, der Titel: Präsident – das machts.“ Schließlich verliert sie auch in Algerien zunehmend ihren Status als Befreiungsheldin. Die algerische Mehrheit sieht in ihr häufig auch nur die französische Kolonialistin, weshalb sie sich die Haare dunkel färbt und das Haus kaum noch verlässt.

Es wird noch einige Jahre dauern, bis ihr in Frankreich Amnestie gewährt wird und sie zurückkehren kann zu ihren Kindern, bis sie wieder in einem Krankenhaus in Marseille praktizieren darf und ihr Leben in Frankreich weiterleben wird.

Die Geschichte zeigt eindrucksvoll, wie Ideale zunächst in die Wirklichkeit finden und im Laufe der Zeit sich von dieser immer weiter entfernen, bis enttäuschend festgestellt wird, dass es nie um Ideale ging, sondern um Macht. Doch erzählt sie in ungewöhnlicher Weise auch, wie eine Frau standhaft gegen Machtverhältnisse ankämpft, um Unabhängigkeit und Gleichberechtigung zu erreichen. Mut und auch ein wenig Rücksichtslosigkeit sind dann die wichtigsten Formen für das Streben und Leben nach ihrem Ideal: Sie gibt ihre sichere, gesellschaftliche Rolle als „respektable Frau, Ärztin und Forscherin“ hin, um für Freiheit zu kämpfen.

Dieses moderne Heldinnenepos zeigt, dass es möglich ist, alte Formen neu vorzustellen. Anne Weber schafft mit ihrem literarischen Experiment ein innovatives Beispiel dafür, Geschichten in ein schwungvolles Korsett zu legen, welches durch die Versform gerade die Intensität der Sätze, der Sprache und des Inhalts gezielter beeinflussen kann. Dem Urteil von Caroline Fischer im Deutschlandfunk ist deshalb beizupflichten, dass „[g]erade diese schnörkellose, unpathetische doch nicht unpoetische Sprache […] einer der Gründe dafür [ist], dass dieses Epos deutlich passionierender ist als die auch ins Deutsche übersetzte Autobiographie“. In der FAZ wurden manche „verkrampfte Wendungen“ moniert, denen aber durchaus Nachsicht geschenkt werden darf. Immerhin – und das ist eine wichtige Erkenntnis nach der Lektüre – belebt Anne Weber die Form des Epos wieder und schafft damit eine neue-alte Möglichkeit historische Begebenheiten zu präsentieren. Wie sehr dieser Versuch vom Glück gekrönt sein wird, das wird die Jury des Deutschen Buchpreises 2020 entscheiden. Die Nominierung auf die Shortlist wird dem Titel in jedem Fall gerecht.


Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos
Matthes & Seitz 2020
208 Seiten / 22 Euro

Foto: rsteve254 / pixabay.com

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