Von Pascal Mathéus
Ihr neuestes Buch hat Herta Müller nicht geschrieben, sondern geklebt. Aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Wortschnipsel collagierte sie mit Bildern zu einer Erzählung aus dem Auffanglager. Die ungewöhnliche Technik gibt einigen Aufschluss über die Poetik der Nobelpreisträgerin.
Was ändert sich, wenn eine Schriftstellerin statt zum Stift zur Schere greift? Die Collagetechnik ermöglicht es dem Leser, der Autorin beim Dichten zuzusehen. Während bei gewöhnlichen Texten nur das Endprodukt zu besichtigen ist, bleiben bei der hier gewählten Form die Scharnier- und Bruchstellen sichtbar. Die Spuren des dichterischen Eingriffs, die Künstlichkeit des Arrangements von nicht auf den ersten Blick zusammengehörigen Wörtern und der freie Umgang mit dem vorgefundenen Sprachrohstoff sind deutlich zu erkennen.
Herta Müller hat für ihre Erzählung Der Beamte sagte Collagen von Wörtern und Bildern angefertigt, die auf jeder Din-A-4-Seite auch für sich eine Sinneinheit bilden. Ja, es handelt sich bei den einzelnen Blättern beinahe um Gedichte. Nicht selten reimen sich die scheinbar unordentlichen Zeilen miteinander. Dabei geht aber nie die zwanglose Form verloren, es sind keine festen Regeln erkennbar.
Aus dem begrenzten Vorrat an Ausdrücken und aus den zuweilen ungewöhnlichen Begriffen und Wendungen hat die Autorin einen Ausschnitt aus ihrer eigenen Lebensgeschichte zusammengesetzt. Ihre Sprache ist gleichzeitig zusammengesucht und ausgesucht. Manchmal hält sich die Autorin nicht an ihre selbstauferlegten Regeln und schreibt einzelne Pronomen oder Konjunktionen zwischen die aufgeklebten Wortschnipsel. Häufiger überklebt sie einzelne Buchstaben oder schneidet Unbrauchbares ab. So entsteht etwa eine „SCHLAFWAND“, die vorher mutmaßlich ein „SCHLAFWANDLER“ gewesen ist.
Eine weitere Ebene tritt hinzu, wenn sich beim Lesen der Schnipsel die Frage auftut, aus welchen Sinnzusammenhängen Müller ihre Wörter entnommen hat. In welchem Zusammenhang war wohl vom „kranken Mut“ die Rede, was hatte es mit der „Federquaste“ oder der „Schleifentheorie“ ursprünglich auf sich? Die Worte behalten in einem stärkeren Maß ihre Fremdheit, als dies bei Herta Müller ohnehin schon immer der Fall ist. Sie stoßen der Autorin eher zu, als dass ihr Geist sie formte.
Für ihr Thema ließe sich kaum eine passendere Form vorstellen. Denn es geht um das Leben als Fragment, um das Rohe, Unfertige, das Sperrige, das sich nicht in die vorgefertigten Fragen eines Beamten pressen lässt.
Im Auffanglager wird versucht, aus dem Leben der Erzählerin einen Fall zu machen, der sich mit einem Fragebogen abbilden lässt. Das vorliegende Buch ist ein nachträglicher Protest gegen die Unzumutbarkeit der Bürokratie. Der Beamte sagt: „Sie erzählen IHR Leben IN Schlangenlinien von innen – aber was WIR unter Erzählen verstehen IST von außen gesehen.“ Diese unterschiedlichen Ansprüche an die Gestalt einer Biographie lassen sich nicht zusammenbringen. Die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören und der Verlust von geliebten Menschen sind zu zudringlich für verbeamtete Sachlichkeit.
„Aufzählen macht ES IMMER schlimmer“, heißt es an einer Stelle. Die Erlebnisse müssen stattdessen in eine Form gebracht werden, die ihnen standhält. Herta Müller hat die Form ihres Lebens gefunden. Sie ist eminent poetisch: „WIR tanzen immer noch TRARA mit dem kalten Schmuck DES Lebens SPRECHEN WIR Algebra.“
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Herta Müller: Der Beamte sagte
Hanser 2021
164 Seiten / 24 Euro
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Foto: Jon Tyson / unsplash.com
Collagen sind für Müller aber glaube ich nicht so neu? Meine mich noch an solche Bücher aus unsrer Stadtbibliothek zu erinnern.
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Stimmt! Es gibt schon frühere Bücher dieser Art. Ich habe mich darauf beschränkt, das jetzige zu beschreiben.
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