Von Lea Katharina Kasper
Ein Plan, drei Familien und ein Ferienhaus bilden die Kulisse für den vermeintlich perfekten Urlaub. Wären da nicht die Ansprüche, den Urlaub perfekt zu gestalten, wäre da nicht das Absturzpotential, das Max Küng in seinem Roman Fremde Freunde vollends auskostet, so groß, dann aber wäre wohl auch der Roman weniger außergewöhnlich.
Jaqueline und Jean sind stolze Besitzer eines idyllischen und überdimensionierten Ferienhauses in der nordöstlichen Provinz Frankreichs. Überdimensional ist nicht nur das Ferienhaus, sondern auch ihre jeweiligen materiellen Ansprüche an das Leben. Ihre in die Jahre gekommene Marketingagentur ist bei der Befriedigung dieser nur noch ungenügende Hilfe – ein akribisch entwickelter Plan soll Abhilfe schaffen. Dazu werden die beiden Freunde ihres zwölfjährigen Sohnes mitsamt deren Eltern nach Frankreich eingeladen. Sechs idyllische Ferientage und die Probleme sollen gelöst sein, so die Vorstellung der beiden. Dass diese Gruppe, ergänzt durch Veronika, einer erfolgreichen Grafikerin und Bernard, einem zuweilen „abgestumpften“ Zahnarzt sowie Salome, einer Sängerin und in absehbarer Zukunft schwerreichen Erbin und Filipp, einem charmanten, aber dennoch mittellosen und -erfolgreichen Schauspieler, eine Szenerie der Extraklasse verspricht, wird schon auf den ersten Seiten deutlich.
Die individuellen Anreisen bilden den Ausgangspunkt der Erzählung und lassen erahnen, dass die Protagonisten im Verlauf des Romans mit ihren jeweiligen eigenen oder gemeinsamen Problemen konfrontiert werden. Diese Probleme schildert Küng vorzüglich in einer Mischung aus Innenleben, Dialog und Szene. Während der Anfang durch die unterschiedlichen Protagonisten und Perspektiven noch einiges an Aufmerksamkeit benötigt, folgt die Leserin dem Rest des Romans wie einem Theaterstück und beobachtet die Szenerie schmunzelnd, stirnrunzelnd, erinnernd oder fragend.
Der perfekte Ort, Probleme zu erkennen, scheinen die Ferien zu sein. Ganz bewusst ist diese vermeintliche Idylle Schauplatz dieses Romans – denn verstecken kann sich, in einem noch so großen Haus an diesem verlassenen Ort, wo jeglicher Fluchtversuch schon bei der Suche nach einem Transportmittel scheitert, niemand. Das spannendste an Max Küngs Roman ist, dass er die einzelnen Menschen erfahrbar macht und sie gleichzeitig als nicht wiederzuerkennende Personen in einer Gruppe agieren lässt. Was eine intime Öffentlichkeit für den Einzelnen bedeutet, beschreibt Küng auf wunderbare Art und Weise. Die verschiedenen Charaktere gewinnen durch jedes Wort, das ihnen in den Mund gelegt und jeden Gedanken, der ihnen zugeschrieben wird, ein Stück mehr Persönlichkeit. Die Leserin ist dabei praktisch allwissend, kennt Geheimnisse der Protagonisten, die sie lieber nicht wissen würde und denkt sich, wie schamlos, heuchlerisch und traurig diese Menschen sein können. Man erfährt die innersten und persönlichsten Gedanken der Protagonisten, nur um einige Seiten später zu erkennen, dass entgegen dieser inneren Überzeugung gehandelt wird – und alles nur der Gruppe, dem Partner, den Kindern oder sich selbst zuliebe. Dennoch funktionieren diese Menschen prächtig in einer Gruppe von Unbekannten, ihren Partnerschaften oder Familien und scheinen beim Bewahren ihrer Geheimnisse glücklich zu sein. Genauer darüber nachdenken, wie sich dies im eigenen Leben verhält, sollte man vielleicht lieber nicht – das „Bettgeflüster“ der einzelnen Paare ist nicht immer schmeichelhaft, ebenso wenig die Geheimnisse der jeweiligen Partner voreinander.
Gegensätze finden sich im Roman viele. Schon der Titel ist dafür bezeichnend und auch der Verlauf des Romans. Die drei Jungs, die einzigen wirklichen Freunde, sind praktisch unsichtbar. Sie bilden das unscheinbare Gegengewicht zu den Protagonisten und führen einem vor Augen, wie einfach das Leben sein könnte – oder zumindest einmal war. Dass die Kinder nur am Rande eine Rolle spielen, ist genau richtig, ist man doch mit den Erwachsenen und den unerklärlichen Dingen, die geschehen, genügend unterhalten. Spannung wird aufgebaut und Täter werden vermutet. Jaqueline und Jean sind bemüht, die von ihnen verlangte Perfektion aufrecht zu erhalten, wobei sie angestrengt versuchen, offenstehende Türen, fertiggestellte Puzzles oder das Verschwinden zweier Hasen in Vergessenheit geraten zu lassen oder durch Alltägliches zu erklären. Spätestens mit dem einem Steinschlag ähnlichen Ende wird aufgelöst, was zuvor unerklärbar war. Dennoch scheinen diese Episoden, insbesondere ihre Auflösung, eher gesucht, als dass sie lockerndes oder tragendes Element des Romans wären.
Wie detailliert und bewusst Max Küng seinen Roman aufgebaut hat, wird der Leserin wohl erst spät klar. Der Aufbau des Romans erscheint an einen „Ferienleserhythmus“ angepasst – die einzelnen Kapitel entsprechen in etwa der Länge, in der man in den Ferien ungestört lesen kann. Und während die einzelnen Figuren mit jeder weiteren Episode und jedem zusätzlichen Detail zu einem immer stimmigeren Individuum zusammengefügt werden, vernachlässigt man einige, als nebensächlich erscheinende „Kleinigkeiten“ mit Wiedererkennungswert, die es vermögen, als unvollständig empfundene vergangene Szenen zu komplettieren. Nach sechs Tagen sind die Protagonisten um mehr als eine Erfahrung reicher. Ob sie diese schätzen, etwas daraus mitnehmen oder sie verdrängen werden, bleibt, wie so vieles in diesem Roman, offen oder zumindest ein geheimer Gedanke. Sicher ist einzig, dass die eigens transformierten Äpfel als klirrendes in Flaschen abgefülltes „Mitbringsel“ eine kurzweilige Erinnerung an diesen Urlaub sein werden.
Max Küng beschreibt treffend und schnörkellos sechs Tage im Leben von sechs Menschen. Er vermag es, die Personen sprechen und fühlen zu lassen und durch raffinierte Beschreibungen die Sicht auf dieselben Dinge in unterschiedlichen Perspektiven fass- und lesbar zu machen, sodass der Roman nicht nur zu einer lockeren Ferienlektüre, sondern einer klugen Geschichte wird. Wer sich ein noch stimmigeres Lesegefühl wünscht, wird durch eine von Autor zusammengestellte Playlist auf Spotify unterstützt.
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Max Küng: Fremde Freunde
Kein & Aber 2021
432 Seiten / 25 Euro
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Foto: WFranz / pixabay.com