Von Pascal Mathéus und Larissa Plath
Das zweite Gespräch zur Rettung der Literaturkritik in der Aufklappen-Reihe Kritik der Kritik der Kritik
Literaturkritik ist nicht in der Krise, sie entwickelt sich bloß weiter, meint die Kritikerin Miriam Zeh. In Zukunft müsse sich die Kritik darum bemühen, den Bedürfnissen einer sich pluralisierenden Gesellschaft entgegen zu kommen. In welchen Medien, mit welcher Sprache und mit welchen Büchern es gehen könnte, erzählt sie im Interview mit Aufklappen.

Aufklappen: In der Beschreibung Ihres Instagram-Kanals ist zu lesen, dass Sie „Feuilleton, nur fancy“ machen würden. Was genau können wir uns darunter vorstellen?
Miriam Zeh: Wenn ich beschreiben soll, was ich mache, sage ich ganz oft, dass ich Literaturkritik in unterschiedlichen Registern mache. Das vielleicht klassischste Register wäre wohl der Deutschlandfunk, wo ich Rezensionen veröffentliche, die auch als geschriebene Texte funktionieren würden. Oft kommen aber die gleichen Bücher auch auf meinem Instagram-Kanal oder auf BooksUP!, einem Instagram-Projekt, bei dem ich dabei bin, vor. Ich stelle mir jeweils ein anderes Publikum dafür vor und die Rezensionen funktionieren auch nach anderen Gesetzmäßigkeiten. Wenn ich ein Buch auf Instagram vorstelle, dann gibt es vielleicht noch einen persönlichen Leseeindruck – etwa „auf den ersten zehn Seiten habe ich mich gelangweilt und dann ging die Post ab, ein super Read“. Das wäre ein Satz, den ich nicht im Deutschlandfunk sage, aber in einer Insta-Story kann das natürlich mal vorkommen. Es gibt unterschiedliche Ansprachen. Auf Instagram ist sie wohl „most fancy“. In der Weise, wie ich dort kommuniziere, würde ich das auch meiner besten Freundin erzählen.
Was ist im klassischen Feuilleton heute nicht mehr fancy genug?
Ich glaube, dass es sich immer noch ganz stark an eine bestimmte, bildungsbürgerliche Zielgruppe richtet – und zu der gehöre ich zum Beispiel einfach nicht dazu. In dieser Debatte um Buchrezensionen bei WDR 3 ist vom Sender mitgeteilt worden, dass ihre Durchschnittshörer:in Ende 50 ist. Ich weiß gar nicht, wie alt der Durchschnittsleser von der FAZ ist – wahrscheinlich auch deutlich über 50. Dort werden einfach andere Zielgruppen angesprochen, was man an der Buchauswahl sieht, aber eben auch an der Ansprache. Die haben ein anderes Publikum (als ich) im Kopf, wenn sie ihr Programm machen.
In konservativen Medien reichen klassische Kanonreferenzen vielleicht von Kafka bis Thomas Mann und noch zurück in die griechische Antike. Für ganz viele Leute ist das aber gar nicht mehr so relevant, weil sie einen ganz anderen Kanon haben […].
Sie sind für den „Young Excellence Award“ des Börsenblatts nominiert. In dem Portrait, das in diesem Zusammenhang veröffentlicht worden ist, werden Sie damit zitiert, dass es Ihnen auch vor allem darum ginge, Bildungsaufsteiger anzusprechen. Auf welche Weise versuchen Sie das?
Das Problemfeld „Publikum“ ist noch viel größer als die Integration von Bildungsaufsteiger:innen. Das größere, dahinter liegende gesellschaftliche Phänomen ist wohl, dass sich auch so etwas wie Kanon pluralisiert, weil sich das Publikum pluralisiert. Das müssen nicht nur Bildungsaufsteiger:innen sein, das können auch Menschen sein, deren Eltern nicht in Deutschland geboren oder deren Eltern nicht in Deutschland zur Schule gegangen sind. Menschen, die deshalb einen anderen Lesekanon mitbringen, weil sie in ihrer Kindheit andere Bücher vorgelesen bekommen haben und mit anderen Volksliedern aufgewachsen sind. Das hat Auswirkungen darauf, wie man über Gegenwartsliteratur spricht. Ich glaube, man braucht einfach neue oder breitere Referenzgrößen. In konservativen Medien reichen klassische Kanonreferenzen vielleicht von Kafka bis Thomas Mann und noch zurück in die griechische Antike. Für ganz viele Leute ist das aber gar nicht mehr so relevant, weil sie einen ganz anderen Kanon haben, womit sie Dinge, die sie heute lesen, vergleichen. Ich glaube, das ist eine Herausforderung für Projekte wie BooksUP!, aber auch für die gesamte Literaturkritik und alle Medien, die heute Bücher-Content machen. Wie schafft man es, nicht all die Leute auszuschließen, die so einen bildungsbürgerlichen Kanon nicht inhaliert haben?
Sie selbst sind auch Bildungsaufsteigerin. Hat Ihnen eine adäquate Ansprache gefehlt, als Sie studiert haben und sich in einer Orientierungsphase befanden?
Ich war so ein schrecklich neunmalkluges Schulkind, das dann irgendwann dachte, man müsse den Spiegel oder die Zeit abonnieren, um zu lernen, was Kanon ist. Ich glaube, das geht ganz vielen Kindern so, deren Eltern keine überregionale Tageszeitung abonniert haben oder bei denen nur ein paar Krimis und Liebesromane im Bücherregal stehen. Man möchte Guidance haben, möchte wissen, woher man das wichtige Wissen bekommt, um mitreden zu können. Es gibt diese tolle Stelle in Deniz Ohdes Roman Streulicht, in der die Protagonistin dieses schreckliche Buch Bildung von Dietrich Schwanitz aufschlägt und denkt, das lese ich jetzt – von vorne bis hinten. Dasselbe Buch wollte ich auch durcharbeiten, bin aber immer nur bis Seite 20 gekommen, weil ein Buch, in dem „alles“ steht, was „man wissen muss“, natürlich wahnsinnig langweilig ist. Ich suchte aber nach irgendjemandem, der mir sagt, was wichtig ist. Dann nimmt man irgendwelche Listen – im Germanistikstudium gibt es auch so eine Leseliste mit 200 Büchern der deutschsprachigen Literatur. Am Anfang ist man ja total dankbar, und glaubt, bis man mitreden darf, müsse man jetzt erstmal das alles gelesen haben. Im zweiten Schritt fragt man sich dann aber vielleicht, wer diese Listen eigentlich gemacht hat und ob es nicht auch noch ganz andere Sachen gibt, die wichtig sind, aber nicht in diesem tradierten Bildungskanon vorkommen.
Haben Sie das Gefühl, dass es zu wenige Literaturkritiker gibt, die klar machen, welche Werke für sie wichtig sind? Diese Anleitung wäre doch für den Anfang hilfreich, oder? Ob man damit übereinstimmt oder die Auswahl kritisiert ist ja wieder eine andere Frage.
Es gibt ein sehr großes Bedürfnis nach solchen Listen. Sowohl Zeit als auch Süddeutsche haben ja Buchreihen, von denen es heißt, da seien nun die wichtigsten Bücher versammelt. Ich verstehe, dass es ein großes Bedürfnis danach gibt, finde aber solche Sammlungen gar nicht so wahnsinnig interessant, weil ich dann fragen würde, in Bezug auf was dieses „wichtig“ zu verstehen ist. Ich finde es auch spannend, wenn mir jemand sagt, das sind die fünf Bücher, die ich jetzt diesen Sommer mit in den Urlaub nehme. Und wenn ich der Person vielleicht schon auf Instagram folge, und gerne mag, was sie liest, kann das eine Hilfe sein. Wenn es dann wieder Listen gibt, in denen zehn vergessene Autorinnen der Romantik oder die 50 unterschätztesten Autorinnen des 19. Jahrhunderts aufgezählt werden, dann finde ich das auch interessant. Ich habe nichts gegen Listen, aber „das Wichtigste von allem“ ist mir einfach eine Nummer zu groß und zu wenig aussagekräftig.
Wichtiger wäre vielleicht die Frage, aus welchen Gründen man Bücher für wichtig hält. Die fünf Bücher in meiner Tasche, die ich zum Strand mitnehme, habe ich ja aus ganz vielen subjektiven und zufälligen Gründen dabei. Wenn Sie vorhin verschiedene Prägungen und Lesebiografien unterschieden haben, sind sie ohne Nennung von Qualitätskriterien ausgekommen. Ist die Frage für Sie uninteressant?
Kanonmechanismen sind ja keine Frage von Qualität oder zumindest nicht nur. Da spielen so viele andere Sachen eine Rolle. Die erste Pflicht der Kanonzerstörung ist, transparent zu machen, dass bestimmte Autoren – Maskulinum intended – nicht kanonisiert wurden, weil sie die besten gewesen wären. Dafür gibt es ja zahlreiche Beispiele in der Literaturgeschichte. Das finde ich das Toxische am Kanon. Es gibt ganz oft eine Illusion von Qualitätskriterien. Indem sich Kanones pluralisieren oder meinetwegen auch zerfallen, weil es für eine bestimmte Leser:innenschaft nicht mehr wichtig ist, ob es eine wahnsinnig interessante Thomas-Mann-Referenz in irgendeinem Buch gibt, kommen Wertungskriterien ins Schwanken. Wenn man sich anschaut, in welche Bücher Literaturkritiker:innen oft verliebt sind, dann sind das eben solche, die eine wahnsinnige Fülle an Intertextualitätsmarkern oder wahnsinnig komplexen Motivspielen aufweisen. Also Bücher, die man mit literaturwissenschaftlichen Analysewerkzeugen aufhebeln, an denen man ein bisschen herumanalysieren kann. Das sind dann übrigens auch die Texte, die in der literaturwissenschaftlichen Gegenwartsforschung vorkommen. Mit Trivialliteratur kann Literaturwissenschaft dagegen nichts anfangen, außer vielleicht aus einer soziologischen Perspektive. Im Close Reading gibt das nicht so viel her. Texte, die in der Literaturkritik ganz oft die herausgehobenen oder ausgezeichneten sind, erfüllen eben solche tradierten literaturwissenschaftlichen Qualitätskriterien. Im Kern handelt auch die Debatte um den „neuen Midcult“, die Moritz Baßler aufgemacht hat, davon. Baßler sagt, das im Moment ganz viel abgefeiert werde, was eigentlich gar keine satisfaktionsfähige Literatur sei. Da würde ich sagen, diese Literatur ist sehr wohl ernstzunehmen, aber sie funktioniert eben nach anderen Kriterien. Meinetwegen können wir ganz viele Kanones machen, aber dann müssten wir zu jedem Kanon diese Wertungskriterien erst einmal klarstellen. Wenn Denis Scheck ein Buch über die 100 wichtigsten Bücher der Welt schreibt, dann ist das Wertungskriterium hauptsächlich Denis Scheck als Person. Das ist ok, ganz viele Buchinfluencer funktionieren ja genauso. Es sollte dann aber bitte auch so auf dem Kanon draufstehen und keine Objektivität suggeriert werden.
Ich finde es auch spannend, wenn mir jemand sagt, das sind die fünf Bücher, die ich jetzt diesen Sommer mit in den Urlaub nehme.
Aber ist nicht am Ende doch das der Kanon, worauf sich die meisten Kritikerinnen und Kritiker einigen können?
Erstens wäre dann die Frage, wer sind die Kritiker:innen? Ab wann zählt man dazu? Zählen dazu nur festangestellte Literaturredakteure, zählen freie Literaturkritiker:innen dazu und Leute, die einen Blog haben? Auch das ist ja ein wahnsinnig plurales Feld. Ich glaube nicht, dass man sich auf einen Kanon einigen könnte. Mir ist das aber recht, weil ich gar kein so großes Kanonbedürfnis habe.
Sie haben vorhin gesagt, dass vor allem die Bücher bei der Kritik gut ankämen, die mit bestimmten Mitteln arbeiten, die sich literaturwissenschaftlich analysieren ließen. Wenn man sich aber aktuell anschaut, welche Bücher besprochen werden, könnte man auch den Eindruck gewinnen, dass es mehr um Inhalte als um die Form geht, und sich Kritik eher auf aktuelle inhaltliche Diskurse bezieht.
Finde ich eine relativ schwer haltbare These zwei Tage nachdem Clemens J. Setz den Büchnerpreis gewonnen hat. Und jedes Medium hat dazu wohl einmal gesendet, dass er ein „Sprachkünstler“ oder „sprachverliebt“ ist. Stimmt auch alles! Ich lese ihn auch wahnsinnig gerne. Ein anderes Beispiel wäre Iris Hanikas Buch Echos Kammern, das den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat. Ein Kritiker hat den schönen Satz über das Buch geschrieben: Diesen Roman könne man nicht verstehen, ohne die griechische Antike zu kennen. Das ist Quatsch. Natürlich kann man diesen Roman lesen, ohne etwas von der griechischen Antike zu wissen. Aber natürlich kann man auch viele Referenzen aufzählen, was ein dankbares Spiel für eine bestimmte Art von Literaturkritik ist. Ich glaube, es gibt zahlreiche Gegenbeispiele dafür, dass wir unter einem literaturjournalistischen Inhaltismus leiden. Das ist ein beliebter Vorwurf, der sich aber angesichts des riesigen Feldes deutschsprachiger Literaturkritik nicht halten lässt.
Über das Beispiel Setz könnten wir noch einmal auf das Kanonthema zurückkommen. Es war auffällig, dass es bei ihm ausschließlich positive Reaktionen auf seine Auszeichnung gab. So einig war sich der Betrieb eigentlich nie. Gehört Setz also zum Kanon?
Ich würde sagen, wenn jemand einen Preis gewinnt, ist es gar nicht so selten, dass erst einmal positive Reaktionen kommen. Bei Elke Erb war es, glaube ich, genau das gleiche. Vielleicht sind wir alle ein bisschen Handke-geschädigt, sodass wir uns fragen, wo der Skandal bleibt? Ich finde es nicht so auffällig, dass es nur positive Reaktionen gab. Aber Clemens Setz ist sicher ein gutes Beispiel für jemanden, der von vielen Literaturkritiker:innen wahnsinnig gute Rezensionen bekommt. Er erfüllt ein gewisses Maß an Komplexität, an Intertextualität, Poetizität und Sprachspiel, er deckt eine große Breite an Referenzen ab – von klassischem Kanon bis Popkultur und Twitter. Er bringt viele von diesen Markern mit, die ich bei der Frage nach den Komplexitätsvorstellungen von Kritiker:innen genannt habe.
Nehmen wir einen anderen Preis: den der Leipziger Buchmesse. Da gab es eine große Debatte um die Liste der Nominierten in der Romankategorie. In einem größeren Artikel, den Sie neulich für das Schweizer Online-Magazin Republik geschrieben haben, kommen Romane vor, die viele Leute auf der Leipziger Liste vermisst haben. Auf Twitter haben sie neulich festgestellt, dass Literaturpreise konservativ seien. Den offenen Brief gegen die Leipziger Nominierungsliste haben Sie aber nicht unterschrieben, oder?
Nein, aber natürlich stehen Literaturpreise immer auch für eine Haltung. Und dass der Preis der Leipziger Buchmesse immer die leicht konservativere Entscheidung ist, während der Deutsche Buchpreis tendenziell populärer entscheidet –, ich glaube, dazu würden vielleicht sogar die Jurys stehen. Es gibt eine Tradition, in der bestimmte Literaturpreise stehen. Einen unpolitischen Literaturpreis zu vergeben, ist allerdings schwierig.
Statt bloß die politische Forderung zu stellen, haben Sie literaturkritisch argumentiert, was uns gut gefallen hat. Der Ton, mit dem die Entscheidung kritisiert wurde, war zum Teil recht harsch. Es wird dann schwierig, wenn Jurys einfach unterstellt wird, ihre Mitglieder würden aus Ressentiments heraus Entscheidungen treffen. Der fairere Weg ist, ein Buch, das keine Berücksichtigung gefunden hat, in einem literaturkritischen Artikel zu feiern und zu erklären, warum das Buch toll ist. Ist es nicht schwierig, wenn Kritiker als Aktivisten auftreten?
Die Debatte um den Preis finde ich wichtig. Ich glaube, sie ist auch noch lange nicht abgeschlossen. Sie ist viel größer als diese Auswahl von den Leipziger Nominierten und auch größer als diese Petition. Ich glaube, dass es gerade so etwas wie einen Generationenwechsel in der Literaturkritik gibt. Einige Babyboomer sind in Rente gegangen und jetzt kommt die Generation der etwa 40- bis 45-Jährigen – und die Anfang 30-Jährigen stehen auch schon in den Startlöchern. Es gibt einen Umbruch bei den Leuten, die dieses Feld sehr lange geprägt haben – wenn du einmal eine Redakteursstelle hast, dann sitzt du da erstmal und prägst den Betrieb lange. So viele festangestellte Literaturredakteur:innen gibt es ja gar nicht. Es kommt eine neue Generation nach, die noch stärker den Impuls einbringen wird, auf die Kritik an sich zu gucken, also auf sich selber zu schauen und zu fragen: Wie sind wir aufgestellt? Wer spricht über wen? – nicht nur was Genderverhältnisse, sondern auch andere Diversitätsmerkmale angeht. Ich glaube, das ist ein Umbruch, der sich auch in der Kritik an solchen Listen schon ein wenig andeutet. Das ist eine Diskussion, die auch noch weitergehen wird.
Vielleicht haben wir jetzt gerade auch mal genug Stuckrad-Barre gelesen.
Erfolgt dieser Umbruch dadurch, dass der Nachwuchs die vorhandenen Plätze einnimmt, oder geht er auch mit neuen Formaten einher?
Ich glaube, es wird eine Kombination aus beidem sein. Ich bin mir nicht so sicher, wie wichtig bestimmte Medien in zehn oder zwanzig Jahre noch sein werden, weil ich es auch einfach nicht prognostizieren kann. Es rücken neue Menschen nach, aber es haben sich ja teilweise auch schon neue Orte etabliert – wie etwa Twitter oder Blogs –, die wichtig geworden sind.
Teilen Sie die Sorge um den Bedeutungsverfall von Literaturkritik?
Ich teile sie nicht. Den Ton des Ankündigungstextes für diese Interview-Reihe finde ich an einigen Stellen zu alarmistisch. Das würde ich so nicht unterschreiben. Literaturkritik muss nicht gerettet werden. Sie verändert sich, sie wird pluraler, was die Menschen angeht, die sprechen, aber auch was Medienformate angeht. Letzteres ist eine drängende Frage, vor der die Literaturkritik ein wenig die Augen verschließt. Wir können nicht die ganze Zeit nur ellenlange Texte schreiben. Medien haben sich weiterentwickelt, während die Literaturkritik sich am längsten gescheut hat, die neuen Formate zu bedienen. Man könne Literaturkritik nicht in drei Minuten machen, heißt es dann. Oder man könne es nicht auf TikTok machen. Natürlich kann man das alles machen. Ich will nicht die lange, toll geschriebene Rezension abschaffen, die ich auch gerne lese. Aber es muss auch jüngere multimediale Formate geben. Das würde ich eher als Chance denn als Bedrohung begreifen.
Der Deutschlandfunk kommt uns da manchmal ein wenig wie die Insel der Seligen vor, wo Literaturkritik sehr stark aufgestellt ist. Jetzt gab es für die Literaturredaktion noch die Nominierung für den Nannen Preis. Am Ende hat man ihn nicht gewonnen, sondern Daniel Deckers von der FAZ für seine sehr verdienstvolle Berichterstattung um den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Bemerkenswert war, dass Literaturkritik in der neu geschaffenen Rubrik „Republik“ nominiert war – was Literatur zum Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beitragen kann oder zur Debatte in der Demokratie wären Fragen, die man mit einer solchen Nominierung verbinden könnte. Natürlich zog die Literatur dann aber den Kürzeren im Vergleich zu den „wirklich wichtigen Themen“. Ist das nicht eine Herausforderung, vor der Literaturkritik steht? Sich zu behaupten im Konzert der Themen? Und ist es vielleicht dabei gerade nicht der richtige Weg, sich nur über die politische, gesellschaftliche Funktion von Literatur zu definieren?
Ich glaube, dass Kultur ganz oft ihren Platz behaupten muss. Auch das würde ich nicht so alarmistisch beurteilen. Im ganzen öffentlich-rechtlichen Bereich hat Literatur immer noch einen historisch gewachsenen, großen Stellenwert. Eher finde ich, dass gerade solche Debatten wie die um den frühmorgendlichen Sendeplatz der WDR-Rezensionen eigentlich zeigen, wie wichtig es Hörer:innen immer noch ist, dass Literatur vorkommt. Das ist jetzt eher eine persönliche anekdotische Beobachtung, aber wenn ich mit Menschen spreche, bekomme ich auch das Gefühl, dass das Buch und die Literatur immer noch ungebrochen einen wahnsinnig großen Stellenwert haben. Das drittbeliebteste Studienfach bei Frauen ist Germanistik. Das würde man ja nicht studieren, wenn man es für wahnsinnig irrelevant hielte.
Und wie steht es mit einer Überbetonung des Politischen in der Literatur?
Ich sehe nicht, dass Literatur immer nur unter politischen Gesichtspunkten wahrgenommen würde. Das schönste Beispiel dafür ist eigentlich, dass selbst eine Autor:in wie Hengameh Yaghoobifarah, der man gerne politische Eindimensionalität vorwirft, einen Roman schreibt, der in seiner politischen Aussage wahnsinnig komplex und vielschichtig ist. Das musste ja dann selbst Ijoma Mangold in der Zeit zugeben, dass gar nicht alle Polizisten in Ministerium der Träume wahnsinnig dumm sind. Also selbst Literatur, die man gern in der Rezeption auf so etwas wie politische Kategorien verkürzt, ist viel vielschichtiger als die Gegner:innen das gerne hätten. Ein Beispiel, mit dem sich Moritz Baßler auch sehr angreifbar gemacht hat, ist Olivia Wenzels 1000 Serpentinen Angst – ein Roman, der auch formal wahnsinnig komplex aufgebaut ist. Der Vorwurf, dass es formal langweilige Literatur zur Folge hat, wenn marginalisierte Stimmen zu Wort kommen, ist einfach durch total viele Beispiele widerlegbar.
Ganz sicher trifft das auch auf Sharon Dodua Otoos Debütroman zu. Trotzdem nochmal die Nachfrage, ob die politische Bedeutung von Literatur überbetont wird: In dem Republik-Artikel schreiben Sie: „Wer zählt zur Gesellschaft, und wem hören wir zu? Wie füllen sich Begriffe wie Diskriminierung und Herrschaft mit Leben? Und was können Romane dazu beitragen?“ Die beiden ersten Fragen sind zweifellos wichtig. Die Frage nach der Literatur kommt dann aber wie nachgeordnet erst an dritter Stelle. Unterwirft man sich da einer Hierarchie, die die politische Wirkung von Literatur in den Vordergrund stellt?
Eine bestimmte Art von Roman wird im Moment einfach politischer, und die muss man dann auch politisch lesen. Wenn wir jetzt wieder auf Qualitätskriterien zurückkommen wollten, könnten wir festhalten, dass jeder Roman eben andere benötigt. Wenn aber Romane politisch gemeint sind, darf oder muss man sie vielleicht sogar politisch lesen. Das heißt nicht, dass dann alle anderen Kriterien hinten anstehen, aber wenn es so herausspringende Merkmale gibt – Kriterien, die sich die Romane selbst geben –, dann finde ich es eher das Gebot einer lektüresensiblen Literaturkritik, dass sie diese Kriterien aufnimmt. Nehmen wir die aktuellen Romane von Mithu Sanyal und von Alena Schröder: Es macht einfach keinen Sinn, diese beiden mit den gleichen Kriterien lesen zu wollen. Beides sind gute Bücher, die aber nach anderen Kriterien funktionieren. Es gibt gerade einen Schub von politischer Literatur, der wohl auch damit zu tun hat, dass der Kanon zerfällt, und mit den sich pluralisierenden Stimmen.
Was schätzen Sie an der politischen Literatur der Gegenwart?
Ich bin dafür sehr dankbar, weil ich dadurch auf viele Sachen gestoßen werde, die ich verschlafen habe. Nicht nur als Mensch, sondern auch als Leserin. Ich habe gerade von Shida Bazyar den Roman Drei Kameradinnen gelesen und jetzt lese ich das neue Buch von Svealena Kutschke Gewittertiere, das Anfang August erscheint. Ich bin ganz in der Nähe von Mölln aufgewachsen. Aber die Anschläge, die in beiden Büchern eine Rolle spielen, sind in meiner Kindheit und Jugend vollkommen an mir vorbeigegangen, sodass ich erst als erwachsener Mensch verstanden habe, was 20 Kilometer entfernt von mir passiert ist. Es kam auch bisher nicht in vielen Büchern vor. Jetzt kann man natürlich fragen, ob es überhaupt wichtig ist, dass Politik in Büchern vorkommt. Aber ich glaube, gerade ist es das. Beim Lesen dieser beiden Romane ist mir nochmal auf eine andere Art diese Gegend, in der ich aufgewachsen bin, nahegebracht worden. Bei Svealena Kutschke aus einer ähnlichen Perspektive, in der auch ich aufgewachsen bin – Kleinfamilie im Reihenhaus. Und dann einmal aus einer Perspektive, wie sie Shida Bazyar beschreibt – in einer Siedlung außerhalb der Großstadt und die Protagonistinnen sind alle Kinder von Eltern, die ihr Land verlassen mussten. Ich war für diese Lektüreerfahrungen sehr dankbar. Vielleicht braucht es zur gesellschaftlichen Verständigung jetzt mal wieder einen solchen Schub politischer Literatur. Denn was haben wir früher so auf dem Schulhof gelesen? Stuckrad-Barre? Vielleicht haben wir jetzt gerade auch mal genug Stuckrad-Barre gelesen.
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Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst
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Shida Bazyar: Drei Kameradinnen
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Svealena Kutschke: Gewittertiere
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Ein Kommentar zu „Schluss mit Stuckrad-Barre – Interview mit Miriam Zeh“