Von Pascal Mathéus
Anna Seghers war sich schon 1933 sicher, was Hitlers Aufstieg ermöglichte: Die ungeklärte soziale Frage trieb die Bauern den Nazis in die Arme. Wenig überraschend für eine Kommunistin. Doch ihre Romane schrieb sie nicht als Politaktivistin, sondern als einfühlsame Beobachterin menschlichen Strebens und Leidens. Der Kopflohn ist ein kleines Meisterwerk.
Es kommt nicht oft vor, dass Klappentexte das Richtige an einem Roman treffen. Dass dies beim Kopflohn, dem zweiten Roman von Anna Seghers (1900–1983) der Fall ist, verwundert etwas weniger, handelt es sich doch um den Band I/2.1 der sorgfältig edierten und hochwertig produzierten Anna-Seghers-Werkausgabe, die der Aufbau Verlag herausgibt.
Den „menschlichen und sozialen Nährboden für den Aufstieg der NSDAP“ durchdringe der Roman, heißt es auf seinem Schutzumschlag. Das ist zweifellos richtig, auch wenn man der Aussage vielleicht etwas von ihrer Absolutheit nehmen könnte. So wird wohl nicht der Nährboden schlechthin, sondern ein bestimmtes Biotop gezeigt, in dem sich die Nazi-Ideologie aus bestimmten Gründen besonders gut festsetzen konnte. Die Rede ist von einem Bauerndorf in Rheinhessen, dessen Bewohner 1932 fast allesamt verschuldet sind und in tiefer Existenznot stecken.
Wer einmal wieder in sich Lust verspürt, das vormoderne Landleben zu verklären – denn vormodern geht es in diesem Dorf tatsächlich zu –, der möge sich kurieren, in dem er das Buch der Anna Seghers liest. Nicht nur gibt der Roman in höchst anschaulicher Sprache wieder, welche körperlichen Strapazen noch im letzten Jahrhundert das Leben als Bauer bedeutete. Noch bemerkenswerter sind die von ihr geschilderten seelischen Zustände ihrer Protagonisten. Innerhalb der Familien herrscht Kälte vor, nicht selten auch blanker Hass. Kinder sind nichts als hungrige Mäuler, Frauen verachten ihre brutalen Männer, die jene wiederum misshandeln.
Am widerwärtigsten ist aber die Schadenfreude der anderen Dorfbewohner, die sich zuverlässig jedes Mal einstellt, wenn einem Mitmenschen ein Unglück geschieht. Seghers seziert dieses Gruppenverhalten präzise. Sie überzeugt und erschreckt dadurch mit ihrer soziopsychologischen Versuchsanordnung. „[M]ir hilft niemand, ich kann Ihnen nicht helfen“, sagt einmal eine Figur zu einer anderen. Diese Einsicht bestimmt das Grundgefühl, in dem sich sämtliche Dorfbewohner befinden.
Aus Hilflosigkeit wird Hass. Und Hass wird die Antriebsfeder für radikale Veränderung, wenn sie nur im Gewand von heilbringenden Versprechungen daherkommt. Seghers bringt diese gestörte Psychologie mit großer Klarheit zum Ausdruck: „Kößlin dachte, Zillich haßte die Roten, weil sie ihm das Land zerschlagen wollten, nach dem sich Zillich sehnte. Er haßte sie, weil sie ihm das Vieh wegtreiben wollten, das er im Traum besaß. Er haßte sie, weil sie ihm den Herrgott auspfiffen, vor dem er manchmal die furchtbare, ihn selbst plagende Bürde seiner Gewalttätigkeit ablegte.“ In ähnlicher Stoßrichtung wie das naturalistische Drama zeigt Anna Seghers, dass kein Leben zu klein ist für tragische Verwicklungen.
Der Klappentext lobt weiterhin „den gestalterischen Reichtum der erzählerischen Mittel“ und trifft auch damit ins Schwarze. Obwohl der Roman von einer Rahmenhandlung getragen wird, deren Hauptfigur ein Fremder ist, der in das Dorf kommt, bietet diese Konstellation eigentlich nur den Anlass, um von der Dorfdynamik zu erzählen. Abschnitt für Abschnitt wechselt die Erzählperspektive von einem Dorfbewohner zum nächsten, wobei ein anonym bleibender allwissender Erzähler, ohne sich aufzudrängen, die Fäden in der Hand hält.
Tempo und Sprache wechseln je nach Thema und Figurenkonstellation. Die Skala reicht von intensiven inneren Monologen, in denen die tiefen Beweggründe für die Motivationen der Figuren aufscheinen, über fein gearbeitete Dialoge, in denen zwischen den Zeilen viel über die Beziehungen der Dorfbewohner zu lesen ist, bis hin zu rasant geschilderten Showdowns zwischen den verfeindeten politischen Gruppen. Manchmal mischt sich leiser Spott in die Schilderungen des Erzählers. Nie geht darüber jedoch seine Menschlichkeit verloren, mit der er auf die Figuren blickt. Im Lächeln über die Unbeholfenheit ihrer Worte schwingt Mitleid mit. „Er glaubte so zu handeln, weil er an Gott glaubte“, heißt es etwa ganz zu Anfang über die Motivation einer Figur. Die moralische, psychologische und philosophische Abgründigkeit dieses Satzes ist typisch für den Blick der Autorin auf ihre Figuren.
Der Kopflohn ist soziologisch hellsichtig, psychologisch empathisch und ungemein spannend. Er zeugt von der Humanität seiner Autorin, die trotz ihrer eindeutigen politischen Ansicht der Kunst den Vorrang einräumt und so einen vielschichtigen, faszinierenden Roman geschrieben hat.
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Anna Seghers: Der Kopflohn. Roman aus einem deutschen Dorf im Spätsommer 1932
Aufbau 2021
230 Seiten / 36 Euro
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Foto: picjumbo_com / pixabay.com
Klingt toll, kommt auf meine Liste!
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