Von Matti Borchert
Ein Vater, zwei Söhne und viele Welten. Thomaes Roman verhandelt überzeugend, wie vielseitig sich das Leben denken und führen lässt und wie eng individuelle Konflikte trotzdem beieinander liegen können. Im Kern handelt der Text von zwei Männern mit ihren unterschiedlichen Lebensentwürfen. Die beiden verbindet jedoch nur, dass sie denselben senegalesischen Vater haben, der während seines Studiums in der DDR kurzweilig eine Beziehung zu zwei Frauen geführt hatte. Die Brüder Mick und Gabriel wissen nichts voneinander und kennen ihren Vater bis zum Ende der Erzählung genauso wenig. Das Einzige, das er ihnen zunächst hinterlassen hat, ist seine Hautfarbe, die nicht nur bei den im Roman auftretenden Frauen für Begeisterung sorgt, sondern auch im Feuilleton.
Literaturkritik beruht zuvorderst auf eigenständigen Überlegungen zur Ästhetik des vorliegenden Werkes. Allerdings ist es von Fall zu Fall geboten, sich über den zu verhandelnden Text hinaus auch mit den bereits bestehenden Besprechungen auseinanderzusetzen; und zwar dann, wenn eine Schieflage in der bisherigen Würdigung des Textes zu erkennen ist. In einer Zeit, in der jede Sichtbarwerdung einer Minderheit in der Öffentlichkeit sogleich als große Emanzipationsbewegung innerhalb der zur angeblich dauerhaften Unterdrückung neigenden Mehrheitsgesellschaft stilisiert wird, genügt schon die Hautfarbe der Protagonisten, um den Wert eines Romans unterstreichen zu wollen. Dabei schreckt man wie Mechthild Lanfermann im Deutschlandfunk Kultur auch nicht davor zurück, die Autorin gleich mit analysieren zu wollen, da sie ja auch – oder in Bezug zu den Romanfiguren eben nur zufällig! – dunkelhäutig sei. Darin ist freilich weniger der Zugang einer literaturwissenschaftlich orientierten Kritikerin zu erkennen als der einer selbstzufriedenen Antidiskriminierungsbeauftragten, die dabei ganz unweigerlich ihre eng gestrickte, binäre Denkstruktur offenlegen muss.
So einseitig wie manche Kritiken das Buch vorstellen, ist es bei weitem nicht; und die Verkürzung des Romans auf eine Auseinandersetzung der beiden Figuren mit ihrer Hautfarbe wird ihm kaum gerecht. Und auch wenn Marie Schmitt in der Süddeutschen Zeitung differenzierter zu Werke geht, trifft sie den Kern nur bedingt, wenn sie meint, der Roman erzähle von einer nicht-weißen Identität. Mick und Gabriel sind Typendarstellungen, von denen der eine ein 90er-Jahre-Leben führt, wie es charakteristischerweise in Berlin stattgefunden haben könnte, und der andere in den 2000ern für die Zeit ein ähnlich sinnbildliches Leben in London. Mick ist der hedonistische Hipster aus der Club- und Technoepoche, der zwischen Exzessen und Experimenten Orientierung und Halt verliert. Gabriel ist der arbeitsame und erfolgsorientierte Yuppie, der mit seinem Lebensentwurf genauso in eine bedrohliche Krise gerät. Sicher: Die eigene Hautfarbe ist für die beiden dann relevant, wenn sie ins Grübeln über ihren Vater geraten oder sich an ihre Kindertage in der DDR erinnern. Das Motiv ist subtil angelegt, aber im Ganzen nicht dominierend für ihre gesellschaftlichen Entwicklungen, ihre Lebeinstellungen und ihre Handlungsweisen. Die Hautfarbe ist keine Vorbestimmung für die Lebenswege der Brüder. Die Figuren agieren vielmehr selbstbewusst im Rahmen ihrer Zeit und sind dabei so divers wie die Epoche selbst. Das macht sie spannend, nicht ihre Hautfarbe!
Die Stärke des Romans liegt in den Charakterzeichnungen der Protagonisten und in den exemplarischen Milieuskizzen der Zeit. Klug und wortstark, facettenreich und nuanciert erhält der Leser plastische Eindrücke in das Denken und Handeln der Figuren und kann deren Entwicklung anschaulich miterleben. Während der erste Teil Micks Leben erzählt, ist der zweite Teil Gabriel gewidmet. Dabei bildet der Titel des Romans die Klammer, die dafür sorgt, beide Leben zusammenzudenken und in ihrem Kontrast wahrzunehmen, da der Leser zunächst noch im Unklaren darüber ist, dass es sich bei Mick und Gabriel um Brüder handelt. Beide starten in der DDR, sind hier und dort mit typischen Jugendkonflikten konfrontiert, schlagen nach der Wiedervereinigung dann aber ganz unterschiedliche Lebenswege ein: Der eine lebt als hochdekorierter Architekt in London, der andere als Partygänger und Clubmitbesitzer in Berlin. Am Ende ihrer im Roman dargestellten Lebensabschnitte eint beide wieder, dass sie in existentielle Krisen geraten. Genau darin liegen die anregenden Leerstellen, die den Leser zum Nachdenken über die Figuren herausfordern. Schützt Erfolg vor dem Scheitern? Ist man ohne größere berufliche Ambitionen zufriedener? Führt der Hedonist erfolgreichere Beziehungen als der Streber? Präfigurieren Herkunft und Aussehen einen bestimmten Lebensweg, eröffnen sie Möglichkeiten, bauen sie Schranken? Für Mick und Gabriel gilt das alles erstmal nicht.
Die Komposition des Romans versucht sich an Raffinessen, die elegant anmuten, im Laufe der Erzählung jedoch zu einigen Längen führen. Im ersten Teil berichtet ein weltgewandter, intelligenter, perspektivisch wechselnder Erzähler in der dritten Person, aus dem im zweiten Teil zwei Ich-Erzähler werden: Gabriel und seine Frau Fleur. Die Funktion des multiperspektivischen Erzählens besteht in der Erzeugung von Gegenbildern zur Innenansicht der Brüder. Das liegt auf der Hand; allerdings sind gerade die Darstellungen Fleurs im zweiten Teil mitunter so ausschweifend, dass hier eigentlich eine neue Geschichte präsentiert wird und sich die beabsichtigte Konzentration auf die Hauptfiguren auflöst. Gabriel tritt zugunsten der psychischen Entwicklung seiner Frau und seines Sohnes oft in den Hintergrund. Zäh werden zuweilen auch die Darstellungen der Protagonisten selbst: Sie sind hinlänglich bekannte Typenfiguren: 90er-Jahre-Hipster, deren Leben ein andauernder Rave ist, und Millenniums-Yuppies, die durch ihren Arbeitseifer die Nerven verlieren, sind längst vertraute Sujets der letzten Jahrzehnte deutschsprachiger Literatur, in der sich Kracht, Goetz, Schimmelbusch und weitere hervorgetan haben. Als Mick seiner Lebenskrise in Thailand entkommen will, erinnert man sich an Danny Boyle / Alex Garland. Als er dann noch Yogalehrer wird, sind eindeutig zu viele Klischees bedient.
So bietet der Roman bis auf die Hautfarbe – um wieder darauf zurückzukommen – nicht viel Neues, aber durchaus Gutes. Möglicherweise ist jedoch genau dieses leicht veränderte Wiedererzählen der eigentliche Schlüssel zum richtigen Verständnis des Romans, kann man darin doch sinnbildend lesen: „Ab demnächst würde man im Remix-Reload-Zeitalter leben. Sequel-Prequel, jetzt erst recht. Trotzdem befand man sich an der Schwelle zum Brandneuen.“
Jackie Thomae: Brüder
Hanser 2019
416 Seiten / 23 Euro