Drache vs. Großmutter – Saša Stanišić: Herkunft

Von Pascal Mathéus

Wovon handelt ‚Herkunft‘? Von gestern, heute und morgen. Vom Erzählen an Aral-Tankstellen und dem Weissagen aus Nierenbohnen. Von Krieg und Flucht, Friedhöfen und Gräbern, aber auch von der Unbeschwertheit und dem Übermut, den es braucht, um mit freiem Oberkörper lauthals Eichendorff zu rezitieren. Aberwitz und Melancholie sind in fast allen Episoden miteinander vermengt, wobei mal das eine, mal das andere vorherrscht. Das Buch ist von einer sinnlichen und gedanklichen Fülle, an der man sich berauschen kann. Es macht glücklich und tieftraurig.

Versucht man Herkunft zu ordnen, kommt man auf drei Hauptthemen: die Familiengeschichte der Stanišićs, die ersten Jahre von Saša und seinen Eltern in Deutschland und die Demenzerkrankung der Großmutter. Der erste rekonstruiert die Biographien der Familienangehörigen, gräbt tief in den Geschichten von Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. In ihren Schicksalen spiegelt sich die Geschichte des Vielvölkerstaates Jugoslawien, der wohl eine wunderbare Idee war, am Ende aber nur durch die unbarmherzige Hand Titos zusammengehalten wurde. 

Sein dramatisches Auseinanderfallen sehen wir aus der Perspektive des Kindes, das Saša damals war. Eine feste und bunte positive Identität verleiht ihm in den frühen Jahren die Fußballmannschaft von Roter Stern Belgrad. Dort spielten Montenegriner, Serben, Kroaten und Bosnier miteinander. Wie Saša selbst haben manche Spieler Eltern aus verschiedenen Bevölkerungsteilen. Was sie zusammenhält, ist der gemeinsame Erfolg. Im furiosen Bericht vom Europokalhalbfinale 1991 zwischen Bayern München und Roter Stern, in dem die Belgrader die Oberhand behalten sollten, steht ganz Jugoslawien eng zusammen. Doch der Zusammenhalt ist fragil. Als er zerbricht, wird wichtig, was vorher egal war: ob einer Serbe oder Kroate, Muslim ist oder nicht. 

Sašas Mutter ist Muslima. Für sie wird der Aufenthalt in Višegrad lebensbedrohlich als der Krieg ausbricht. Gemeinsam mit ihrem Sohn gelingt die Flucht nach Deutschland. Der Vater folgt ein halbes Jahr später nach. Einsamkeit und Scham, Armut und Ausgrenzung sind die ersten Erfahrungen in dem fremden Land. Das Erlernen der Sprache macht Mühe, seinen Eltern wird es nie wirklich gelingen. Sie haben anderes zu tun; schuften in der Großwäscherei und auf dem Bau, obwohl sie in der alten Heimat gut bezahlte Akademiker waren. Stanišić setzt ihnen mit seinem Buch ein berührendes Denkmal der Dankbarkeit. Ihr Einsatz ermöglicht zumindest ihrem Sohn das Ankommen. Wie Saša sich durchbeißt, wie er abgelehnt wird und von wem er zum ersten Mal Anerkennung erfährt, ergibt eine spannende Lektüre, die für die Gegenwart von großer Relevanz ist. 

Nichts von alldem wird einfach so mitgeteilt und linear wiedergegeben. Es liegt immer die Frage zugrunde, was das Geschichtenerzählen eigentlich ist, wie es sich aus Sprache, Erinnerung und Phantasie zusammensetzt und in welchem Verhältnis dazu die Wirklichkeit steht. In die Gegenwart von Hamburg richtet sich der Blick, in der Stanišić ein erfolgreicher Schriftsteller und der Vater eines kleinen Sohnes ist, aber vor allem immer wieder in die Vergangenheit. 

Im Zentrum steht die Großmutter Kristina, die in Višegrad geblieben ist. Sie bewahrt die Erinnerung an die Vergangenheit, indem sie die Gräber der Schwiegereltern im bosnischen Bergdorf Oskoruša und die Kontakte zu den dortigen Familienangehörigen pflegt. Doch ihr Gedächtnis wird durch die Demenz bedroht. Es wird brüchig, setzt die Geschichten neu zusammen, erkennt nicht mehr alles. Aber dafür sieht sie Dinge, die kein anderer sieht. Ihre Krankheit wird so zur Metapher für Vergangenheit und Herkunft. Zu keinem von beiden haben wir einen unverstellten Zugriff. Vergangenheit droht zu verblassen, wenn die Zeit voranschreitet und die Älteren sterben. Durch Assoziationen und die Erinnerung an Einzelheiten, die zu Geschichten verwoben werden, wird sie lebendig gehalten. Indem sich die Herkunft von diesen Geschichten ableitet, wird sie zu einem mehrdimensionalen Kontinuum. 

Über die Grenzen alles Bekannten hinaus reicht der letzte Teil des Buches. Stanišić überträgt jetzt dem Leser die Verantwortung, indem er ihn eigene Entscheidungen treffen lässt. Je nachdem wie diese Entscheidung ausfällt, blättert man vor oder zurück und gibt der Geschichte eine andere Wendung. 

Sie handelt von der Suche Stanišićs und seiner Großmutter nach dem verschwundenen Großvater, der in der mit Phantasie vermischten Erinnerung den Berg Vijarac bestiegen hat, um die dort hausenden Drachen zu bekämpfen. In Wirklichkeit liegt Kristina zu diesem Zeitpunkt in einem Altenheim. Sie wird sogar während dieses Fortsetzungsabenteuers sterben, aber nur in Wirklichkeit. Gegen diese wird mit der Phantasie ein mächtiger Gegner gestellt. Man will immer weiter, will mit Stanišić, dass sich die Geschichte gegen die Wirklichkeit behauptet und kann sie bis zu den Drachen und dem Wiedersehen der Großeltern vorantreiben. Doch genau wie die Geschichten immer durch die Brüche der Wirklichkeit hindurchscheinen, verhält es sich auch andersherum. 

Marcel Reich-Ranicki hatte Günter Grass nach der Lektüre seines Erstlings vorgeworfen, dass der Autor seine Phantasie nicht im Griff gehabt und dadurch mit der Blechtrommel ein überbordendes Wirrwarr geschaffen zu haben. Dass ihm damit Weltliteratur vorlag, hat er erst später erkannt. Nicht nur, weil auch Herkunft mit der Großmutter beginnt und von Flößern weiß, die nicht schwimmen können, erinnert das Buch von Stanišić an Grass’ Beschwörung seiner Danziger Herkunft.

Das Pralle, das Brutale, die verschwenderisch farbige Sprache, das Vielstimmige, die Zartheit, die Lust am Erzählen, die Not des Erzählens in immer neuen Volten, von immer neuen Standpunkten aus: All das erzeugt in ‚Herkunft‘ einen unwiderstehlichen Sog in Stanišićs vielschichtige Welt. Man folgt ihm atemlos von Višegrad in den Hexenkessel von Belgrad, von Heidelberg nach Hamburg in die bosnischen Berge und wieder zurück. 

Es ist die Musikalität dieser lässig bis nachlässigen Prosa Stanišićs, die einen in den Bann zieht, indem sie sich unaufdringlich zu phantasievollen Bildern steigert. Man nimmt dieser Sprache alles ab. Selbst wenn man gar nichts versteht, ahnt man den schönen Klang der serbokroatischen Lied- und Gedichtstrophen, die in den Text eingestreut sind. Man möchte sie laut lesen und zum Leuchten bringen und spürt so etwas wie Liebe zu einer unbekannten Sprache. Das ist phantastisch! Wer so etwas mit seinen Büchern kann, muss ein Zauberer sein. 

Saša Stanišić: Herkunft
Luchterhand 2019
360 Seiten / 22 Euro