Von Matti Borchert
„In der Literatur gibt es nur die Liebe und den Tod. Alles andere ist Mumpitz“, dekretierte Reich-Ranicki bekanntlich einmal. Seit der Frühzeit der Dichtung gehören beide sogar untrennbar zusammen, sind doch Erleben und Erleiden des Verlusts eines geliebten Menschen ein vertrautes Sujet. Doch wie kann man heute noch vom Tod erzählen angesichts der Fülle und des Gewichts der Tradition? Die Gefahr ist nicht gering, zu wiederholen, in Pathos und Kitsch zu versinken oder sich in die Ironie zu flüchten, um der Schwere des Themas zu entgehen. Doch nichts von all dem widerfährt Anna Stern. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie behutsam, und gleichzeitig mit welcher poetischen Kraft man aktuell noch von Tod, Verlust und Schmerz schreiben kann, muss ihren Roman ‚das alles hier, jetzt.‘ lesen.
Ein seit Kindertagen gewachsener Freundeskreis verliert einen geliebten Menschen. Der Tod anankes reißt eine tiefe Wunde in das Leben ihrer Freunde. Der Versuch, diese Wunde zu schließen, gerät für sie zu einer dauerhaften Herausforderung. Das Leben anankes ist dabei nicht nur für ihre Freunde, sondern ebenfalls für den Leser schwer zu greifen. Aus verschiedenen Teilen des Romans trägt man die verstreuten Informationen zusammen, ohne jedoch ein zufriedenstellendes Gesamtbild erhalten zu können. Offenbar ist aus einem lebendigen Kind ein schwankender, distanzierter, selbstbezogener junger Mensch geworden, der auf zunehmend größere Schwierigkeiten in der eigenen Lebensbewältigung gestoßen ist und an Selbstmord gedacht haben muss.
Dass die Figur weitestgehend im Dunkeln bleibt, liegt am fragmentarischen Erzählverhalten im Roman. Zwar ist ananke Anlass und Bezugspunkt der Erzählung; die wird allerdings aus der Perspektive ichors dargeboten. ichor berichtet einerseits aus der Gegenwart heraus vom Tod, von der Beerdigung und der schwer zu leistenden Verarbeitung für die Freunde. Andererseits erinnert sich die Figur an die gemeinsame Vergangenheit, an die Kindheit mit ananke, ans Heranwachsen, an die Schulzeit und an die gegen Ende schwieriger werdende Freundschaft. Diese Erinnerung ist jedoch insofern brüchig, als sie naturgemäß perspektivisch gebunden, selektiv und geformt ist. Die Erinnerungsarbeit ist aber zusätzlich eingetrübt, da ichors mentale Stabilität den ganzen Roman hindurch ebenfalls fragil zu sein scheint. Sie leidet an Angststörungen, Depressionen, benötigt therapeutische Hilfe und schwankt dauerhaft zwischen Wut, Trauer und Sehnsucht nach Harmonie. Ihre Erinnerungsarbeit ist als Versuch zu verstehen, den Menschen ananke und dessen Tod in Form einer Draufsicht auf das gemeinsame Leben verstehen zu lernen. In diesem Sinne geht die Erinnernde auf Distanz zu sich selbst und erzählt von ihrem Erleben des Todes anankes aus der Entfernung, indem sie kontinuierlich das Gespräch mit sich selbst sucht.
Woher diese tiefe Entfremdung bei ichor stammt, woher die mentale Zerrüttung auch bei ananke, bleibt wie so vieles andere vage. Schlaglichtartig deuten Erinnerungsfetzen den Weg; verweisen in die Kindheit, auf eine Hütte in den Bergen, in der die Freunde ihre Ferien verbrachten. Dann bricht die Erinnerung wie bei anderen Erzählsträngen ab. Unvollendete Sätze und disparate Gedankenströme verleihen der psychischen Zerbrechlichkeit und der prekären Erinnerungsarbeit der erzählenden Figur formalen Ausdruck. Die Namen der Hauptfiguren selbst sind sprechend: Das altgriechische Wort anankē meint den Zwang, kann zuweilen aber auch auf eine enge Verbindung, eine Blutsverwandtschaft zwischen zwei Menschen verweisen. ichōr dagegen ist die homerische Bezeichnung des Götterblutes, das schwer und dunkel aus Aphrodite herausströmt, als Diomedes sie im Trojanischen Krieg verwundet. ananke und ichor eint eine solche dunkle Schwere.
Die Lücke, die der Tod anankes reißt, ist im Ganzen nicht nur Sinnbild der vielfach gebrochenen Linearität in der Erzählung, sondern darüber hinaus auch der Brüchigkeit der Erinnerung an das Leben. Was bleibe, wenn man sich einmal an alles erinnert haben mag, fragt sich die Erzählerin im Bewusstsein, dass Erinnerungen die Vergänglichkeit des Lebens keineswegs überwinden können. Im Gegenteil: Sie selbst sind nur Schemen, überlagern sich, verzerren sich gegenseitig, bis man nicht mehr weiß, was tatsächlich passiert, was nur in der Erinnerung wahr oder was bloß Erinnerung an eine frühere Erinnerung ist. Damit stellen ichors Überlegungen die weit verbreitete Annahme zur Disposition, dass wir in der dauerhaften Reflexionsschleife alle Angelegenheiten besser beurteilen könnten, da wir ja Distanz zum Geschehen einnehmen würden. Die Reflexion ist dabei nicht weniger gefährdet als die Perzeption, sind beide doch gleichsam auf die Verlässlichkeit der Sinne angewiesen. Doch die scheinen – zumindest der erzählenden Figur – im Laufe des Lebens zunehmend weniger vertrauenswürdig.
Man könnte einwenden, die zeitgenössische Literatur quelle über vor diesem Thema. Preisgekrönt hat ja schon Stanišić die Fragmentarisierung von Leben und Erinnerung aufgegriffen. Das stimmt. Doch die leisen Töne, die filigrane Skizzierung der Mentalität ichors machen den Roman lesens- und das Thema erneut bedenkenswert. In dieser Sensitivität, in dieser ernsten, aber nie penetranten Empfindsamkeit liegt das Bedeutende des Romans. Das gemeinsame Leben zu beschreiben und doch offen lassen zu müssen, was das alles bedeutet, zeugt von der immer wiederkehrenden Notwendigkeit des Menschen, der Kontingenz des Lebens mit Sinnsuchen entgegenzutreten und damit doch nur bedingt Erfolg zu haben. Der Roman zeigt plastisch, wie die Verarbeitung der eigenen Traumata zu scheitern droht.
ichor gleitet nicht ab in einen unbändigen Zorn wie Achill. Ihre Wut bleibt verschlossen. Auch löst sie sich im Laufe des Romans zumindest äußerlich aus der Erstarrung. Eine zweite Niobe ist die Figur nicht. Und dennoch einen sie die eigene Entfremdung und ihre Lebensabkehr mit ihren Leidensverwandten. Angesichts der Todeserfahrung wird sie des Lebens müde. Wie bisher kann sie nicht weitermachen. Deshalb flüchten die Freunde nach Italien, wo sie am Ende der Erzählung mit der Urne anankes ins Meer steigen.
Das konventionelle Ende trübt das Gesamtbild des Romans nicht. Auch die konstante Kleinschreibung schmälert nicht den Lesegenuss. Der Roman steht mit seiner Motivik und seinem Erzählverhalten ganz in den Gestaltungsmerkmalen der Gegenwartsliteratur. In diesem Sinne ist Sterns Buch nicht nur ein Beweis dafür, mit welcher sprachlichen Sensitivität und welcher Würde, sondern auch mit welchen gegenwärtigen Erzähltechniken man ein altes, aber nie alterndes Thema zeitgemäß darstellen kann. Es ist eins der besten Bücher dieses Jahres, das sehr zu recht den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen durfte.
Anna Stern: das alles hier, jetzt.
Salis 2020
288 Seiten / 24 Euro
Foto: Paula Borchert