Eine schrecklich banale Familiengeschichte – Katharina Geiser: Unter offenem Himmel

Von Britta Mathéus

Bücher haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Menschen, die man auf Partys trifft. Mit so manchem findet man sich sofort auf Augenhöhe wieder. Man bemerkt gar nicht, wie ein Abend, wie eine ganze Nacht vergeht, und bedauert es zutiefst, wenn die Zeit des Abschieds gekommen ist. Und dann gibt es jene, denen man lieber aus dem Weg gegangen wäre, weil sie einen sonst mit einem unendlichen Strang pointenloser Anekdoten für den Rest des Abends okkupieren, wenn es nicht gelingt, sich zum rechten Zeitpunkt höflich aus dem Gespräch zurückzuziehen. Leider fällt das hier besprochene Buch in die letztere Kategorie.

Katharina Geisers Roman Unter offenem Himmel nimmt sich den Lebensgeschichten zweier Frauen an, die zu verschiedenen Zeiten in der Schweiz spielen. Wir treffen zunächst auf Klara, eine weltvergessene Buchhändlerin, die als verträumtes und künstlerisch begabtes Kind während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in bildungsfernen Verhältnissen aufwächst. Von ihren Eltern, dem liebevollen, aber zurückhaltend-einfältigen Fleischer Franz und der cholerisch-oberflächlichen Sanne, fühlt sie sich von Beginn an nicht verstanden. Deshalb flüchtet sie sich in die Phantasie, indem sie sich selbst das Lesen beibringt und jedes Stück Pappe, das sie in die Finger kriegt, mit Zeichnungen bekritzelt. Wir begleiten sie durch das skurrile Liebesverhältnis zum verheirateten „smile designer“ Roman, verfolgen ihre gedanklichen Ausflüge in die Kindheit und Jugend, erleben ihre ersten Schritte ins Erwachsenenleben und haben schließlich Anteil an ihren Erinnerungen an ihre große Liebe zu dem mysteriösen Maler Paul.

Die zweite Protagonistin ist die Ende des 19. Jahrhunderts lebende Elise, eine pragmatische junge Frau, die nach dem Tod ihrer Mutter und der Geburt eines unehelichen Kindes unter widrigen Umständen ihren Lebensweg sucht. Dieser führt sie zunächst in die Gassen von Zürich, wo sie sich als Hure ihren Lebensunterhalt verdient, dann in die Arme von Beni, mit dem sie ins Berner Arbeiterviertel zieht. Dort hat die junge Familie das harte Leben in Armut und eine beachtliche Anzahl von Schicksalsschlägen zu bewältigen.

Die Erzählung nimmt den Ton der jeweiligen Hauptfigur an. So werden aus Klaras Perspektive in blumiger Façon Eindrücke und Gedanken ihres Lebens im Präteritum berichtet. Jeder Psychoanalytiker hätte eine wahre Freude an diesen freien Assoziationen, hätten sie denn inhaltlichen Gehalt. Leider klingt es aber zu oft vielmehr so: „Klopapier. Ein Rauschen. Fleischeinschlagpapier. Trockenes Ertrinken. Das Papier zerknüllt sich nicht raschelnd, sondern trillernd, zirpend. Ein ganz hoher Ton. Aber welches Papier. Es wird kleiner und kleiner, ist zuletzt klein wie eine Pupille des Geliebten. Dann ein Knall – und Paul war wieder da.“

In bildreicher Sprache, die leider allzu häufig in bare Banalität abdriftet („Kreativität beginne dort, wo ein Laib Brot der Länge nach geschnitten würde“) kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier schwer bemüht der Versuch unternommen wurde, eine möglichst poetische Sprache für Klara zu finden, die sie von der Oberflächlichkeit ihrer Umwelt abheben soll. Salopp eingeworfene Redewendungen („Mit Beginn der Pubertät ging gar nichts mehr“) und eine Unzahl nichtiger, in Klammern gesetzter Zusatzinformationen oder Einwände („Lokalfarbe, Leute, Lokalfarbe!“) erinnern dagegen eher an ein sektgetränktes Kaffeekränzchen als an literarische Kunstfertigkeit.

Elise lässt ihrem Gedankenstrom ebenfalls freien Lauf. Im Gegensatz zu Klara jedoch spricht sie im Präsens, verfällt hin und wieder in Mundart und setzt an die Stelle der hochtrabenden Pseudo-Poesie eine einfache, häufig naive Sprache, die zwischendurch beinahe eine Wohltat darstellt, wäre sie nicht so sehr gespickt von Hausfrauenweisheiten und Allgemeinplätzen: „Den Kakerlaken stellt sie von Zeit zu Zeit mit einem Schuh nach, und den Ameisen wird Elise, sobald sie im Frühjahr in Kolonnen aufmarschieren, mit Natron Einhalt gebieten. Dieses Hausmittelchen hat sie vorrätig, weil sie damit auch endlich wieder Apfelkuchen backen kann.“

An einigen Stellen des Romans wechselt die Erzählerstimme plötzlich die Perspektive – so kommen zwischendurch auch Elises Ehemann Beni und ihre Tochter Anni zur Sprache, nur um dann nach wenigen Seiten ohne weitere Erklärung oder Abgrenzung zu Elises Blickwinkel zurückzuschwenken. Der Ansatz, eine Perspektivenerweiterung herbeizuführen, um einen ganzheitlicheren Blick auf die Personen und ihre Familienkonstellationen zu gewinnen, ist an sich löblich. Werden die Passagen aus dem Blickwinkel von Nebenfiguren aber derart beliebig angefügt, so wirkt die Umsetzung plump und wenig elegant.

Auch die Sequenzen, in denen die Lebensgeschichten der Frauen in den Kontext schweizerischer Gesellschaftsgeschichte eingebettet werden sollen, wirken künstlich herbeigeführt. Es reicht nicht aus, dass sich die Personen zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort befinden, um dem Einfluss historischer Ereignisse auf die Lebensrealität der Menschen vor Ort angemessen Rechnung zu tragen. Hier hilft dann der Erzähler erneut aus, indem er plötzlich und ohne erkennbare Abgrenzung zu einer allwissenden Expertenfigur wird, welche Hintergrundinformationen liefert oder Bezüge herstellt, die der jeweiligen Protagonistin (noch) nicht bekannt sind.

So ist das Buch eine merkwürdige Mischung aus Innen- und Außenansicht, die weder eine intensive Darstellung von Gefühls- und Erlebniswelten erschafft, noch distanziert genug ist, um die Geschehnisse auf einer abstrakteren Ebene in ein Geflecht der Lebenswege und gesellschaftlicher Begebenheiten einzubetten. Mindestens eins von beidem hätte man sich von einer Familiengeschichte aber erhofft.

Stattdessen stolpert man erst auf etwa drei Vierteln des Buches nebenbei über den entfernten Verwandtschaftslink zwischen den beiden Protagonistinnen, die vier Generationen trennen. Die vielen Fragen, die sich aus diesem komplexen Familiengefüge ergeben, werden in den kurzen Schlaglichtern, die auf die Zwischenzeit geworfen werden, nicht zufriedenstellend in den Blick genommen. Das beste Beispiel, wie viel Potenzial hier liegengelassen wird, liefert Klaras Mutter Sanne. Sie besitzt alle Eigenschaften, die man in einer desinteressierten, oberflächlichen und unempathischen Mutterrolle zusammenwürfeln kann. Obwohl sich das ansonsten merkwürdig gehetzt wirkende letzte Viertel des Buches die Zeit nimmt, auf eine Situation aus Sannes eigener Kindheit einzugehen, und ihr Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter anklingt, wird doch nie verständlich, wie sie zu der Person und Mutter werden konnte, die sie für Klara verkörpert. So bleiben sowohl die Figuren, als auch ihre Beziehungen untereinander platt und enttäuschend blass.

Ähnlich verhält es sich mit der persönlichen Entwicklung der beiden im Mittelpunkt stehenden Frauen. Klara kommt als Bücherwurm zur Welt und begreift ihr gesamtes Leben in Zitaten, was dem Leser in regelmäßiger Penetranz unter die Nase gerieben wird. Ihre Weltvergessenheit manifestiert sich in unerträglich kitschigen Mustern, wie Zitate mit Lippenstift an den Spiegel zu schreiben oder sich einen Papprahmen auszuschneiden, durch den sie blinzelnd gewisse Ausschnitte der Welt um sich herum betrachtet. Elise ist und bleibt dagegen die pragmatische und hart anpackende Macherin, deren Emotionen, Konflikte und Resignationen ob der Schicksalsschläge, die sie zu erleiden hat, in distanzierter Manier abgefrühstückt werden, und die anscheinend ohne Wimpernzucken die verschiedenen Stationen ihres Lebens durchläuft, ohne wirklich tief in ihrem Innern davon berührt zu werden.

So ähnelt das Buch insgesamt dem bekannten Lied „A horse with no name“, zu dem Klara und ihre Hippiefreunde gemeinsam am Lagerfeuer tanzen: Es plätschert ziellos dahin, in der immer gleichen Monotonie. Genauso wie bei jenen zuvor erwähnten Partygästen, die sich in ihrem endlosen Redeschwall konsequent in Nebenschauplätzen verlieren, vom Ästchen aufs Stöckchen kommen, nur um erneut in die nächste Umgehungsstraße der Gedanken abzubiegen, so hat man auch nach der Lektüre eines solchen Buches das Gefühl, ein wenig zu viel Lebenszeit investiert zu haben.

Katharina Geiser: Unter offenem Himmel
Jung und Jung 2020
320 Seiten / 23 Euro

Foto: pixabay.com

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