Von Louisa Schwope
Wer kennt sie nicht, die Sehnsucht nach einem spontanen Exit aus dem Alltag: Ausbrechen aus dem Trott und plötzlich an einen heilen, schönen Ort springen. Martina Altschäfers Debütroman ‚Andrin‘ entführt die Protagonistin Susanne an einen solchen Flecken. Das Setting ist im wahrsten Sinne des Wortes gut und schön, aber der Funke springt nicht über. In erster Linie liegt das am Storytelling der Autorin, die hauptberuflich Malerin ist: Sie lässt durch Worte zwar Sehnsuchtsbilder entstehen, eine überzeugende Erzählung wird daraus aber leider nicht.
Susanne ist Autorin und schreibt als Ghostwriterin für ihren Verleger Jupp bzw. dessen zahlungskräftige Kunden „Auto“-Biografien. An einer besonders harten Nuss – einem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden eines Unternehmens aus dem Ruhrgebiet, dem es an Selbstbewusstsein nicht mangelt; sie nennt ihn diskret „HaPe“ (Haupt-Person) – droht sie mit ihren Schreibkünsten zu scheitern. Aus Sorge um den Verlust eines besonders dicken Fischs legt sich Verleger Jupp ins Zeug und bietet Susanne bereitwillig die kostenfreie Nutzung seines Feriendomizils an der italienischen Küste als künstlerischen Rückzugsort an, damit sie sich ungestört und in angenehmer Umgebung auf das Schreiben konzentrieren kann.
Auf der Reise dorthin geht jedoch alles schief. Eine wegen Steinschlags gesperrte Straße macht die Weiterfahrt unmöglich. Susanne beschließt kurzerhand, eigenen Fußes über den Pass zu laufen. Es kommt, wie es kommen muss: Das erst so blendend schöne Wetter schlägt um und Susanne kauert frierend in strömendem Regen irgendwo an einer verlassenen Passstraße. Dort sammelt sie schließlich etwas unwirsch ein mürrisch wirkender älterer Mann mit seinem Jeep ein, der sich als Andrin vorstellt. In Ermangelung von Alternativen (außer, sich im Regen den Bergen zu überlassen), begleitet ihn Susanne nach Voglweh, einem verlassenen Ort inmitten der grummelnden Berge, und ehemals militärisches Sperrgebiet.
Voglweh gibt Susanne viele Rätsel auf, Andrin und seine Frau Uta sind die einzigen Bewohner. In Voglweh wächst das Gemüse als gäbe es einen Superdünger, Steine im Wasser scheinen dessen Wirkung zu verändern, das Essen schmeckt überdurchschnittlich gut und alle drei Bewohner haben plötzlich Superkräfte. Susanne vergisst über das einfache, gute Leben ohne Internet, körperliche Arbeit und einen sehr regelmäßigen Rhythmus die Zeit und ihren eigentlichen Auftrag. Somit befreit sie sich aus dessen einengenden Schlingen. Ein Ende findet die unerwartet glückliche Auszeit, als Susanne am Bahnhof im Tal realisiert, dass Andrin sie dort nicht nur kurz abgesetzt hat, sondern sie auch vorerst nicht wieder abholen wird. Ein Abschiedsgeschenk in Form eines Umschlags mit einem Nolde-Gemälde, Rezepten und den besagten besonderen Steinen verdeutlicht ihr dies. Der Winter kommt, und den verbringt man als durchschnittlicher Stadtmensch besser nicht in einem abgeschnittenen, von Stein- und Schneelawinen gefährdetem Alpen-Geheimort.
Susanne beschreibt emotionsreich ihre Wahrnehmung des Abenteuers, in das sie plötzlich gelangt ist. In Voglweh ist alles kostbar, besonders und ausgewählt. Martina Altschäfer hat ein großes Faible für die Berge, was sich auch in ihren Gemälden erkennen lässt. Auch das Vorsatzpapier des Buches ist mit einer angedeuteten, künstlerischen Kartografie der Berge rund um Voglweh ansprechend gestaltet. Wenn es um die Landschaften und die Bewegung darin geht, gelingen ihr bildreiche Beschreibungen: „Zu meiner rechten Seite fiel das Gelände extrem ab, ein Einschnitt im Berg, kein Tal, eher ein tiefer, dunkler Spalt, der den zum Trampelpfad geschrumpften Weg abrupt hatte enden lassen.“ Ebenfalls schafft sie es regelmäßig, der Leserin mit den fantasievollen Voglweher Gerichten, die Andrin zubereitet, das Wasser im Mund zusammenlaufen zu lassen (Mooseis auf Wolfsbeerenkonfit, sahniger Kartoffelauflauf mit wildem Lauchgemüse und einer genialen Senfkomposition aus Stiefmütterchenasche und schwarzen Senfkörnern, Spinatknödel in Nuss-Kräuter-Sauce…).
Ist das Fiktion, oder gibt es Voglweh tatsächlich? Zumindest Google Maps verneint dies, bzw. bietet nur ein „Vogelweh“ in der Nähe von Kaiserslautern an. Tatsächlich gibt es in Altschäfers Geschichte nur einen einzigen Authentizitätsmarker in Form des Gemäldes von Emil Nolde. Dass ausgerechnet ein Gemälde diese Rolle des Realitätsbezugs übernimmt, ist bei Altschäfer als bildender Künstlerin natürlich nicht weiter erstaunlich. Dennoch erscheint es eher wie ein Bruch mit der Erzählung, die zwar überall in den Bergen so stattfinden könnte, aber sich ansonsten vor allem dadurch auszeichnet, Realitätsbezüge in Form von tatsächlich existierenden Orten und Personen auszuschließen. An anderer Stelle wiederum bricht die Autorin mit der sonst durchgängig geführten Ich-Perspektive der Protagonistin und schildert unerwartet aus einem dritten, externen Blick, was sich hinter verschlossenen Türen abspielt: „So lag ich in meinem Bett, überlegte fieberhaft, was im Erdgeschoss vor sich gehen mochte, und stürzte mich in wilde Spekulationen […]. Derweil breitete Andrin hinter der verschlossenen Tür seines Arbeitszimmers das nächtliche Beutegut auf dem Schreibtisch aus.“ Sie verletzt ihre eigene Regel, ausschließlich aus Susannes Perspektive zu berichten. Das wirkt eher wie ein Versehen denn als Absicht. Zudem nimmt die Autorin an der benannten Stelle ein Geheimnis vorweg und schadet somit der eigenen Dramaturgie. Das tut sie auch, als Susanne quasi im Nebensatz verrät, dass sie „sehr viel später“ erfährt, dass ihr Biografie-Projekt mit „HaPe“ durch eine Aufkündigung des Vertrags seitens des Auftraggebers längst geplatzt war, als sie noch in Voglweh weilte. Diese Information kommt unvermittelt und stört die sonst chronologische Erzählung ihrer Zeit in den Bergen. Die Autorin nimmt sich selbst das Potenzial des Cliffhangers Jupp, der Susannes einzige Verbindung in ihr altes Leben darstellt.
Brüche wie dieser sind es, die den Roman insgesamt als nicht schlüssig erscheinen lassen. Alles in allem macht sie einen ungeschickten Eindruck in ihrem Storytelling und traut der Leserin offensichtlich wenig zu – man muss häufig nur eins und eins zusammen zählen, um den Fortgang der Geschichte zu ahnen, was die immer stutzige Protagonistin anscheinend nicht kann. Auch die Überschriften zu den einzelnen Kapiteln sind nur simple Beschreibungen dessen, was als Hauptthema behandelt wird – „Die Böden“, wenn Andrin und Susanne in einem Haus Böden verlegen. Der Roman selbst hätte ebenso gut „Uta“ oder „Susanne“ heißen können, nur ist „Andrin“ als Vorname zugegebenermaßen etwas ausgefallener. Zudem wird Uta, die in steter Furcht vor dem nächsten Steinschlag lebt, und die die Leserin hauptsächlich durch ihre Arbeit in der Küche kennenlernt, mit ihrem ängstlichen Charakter tendenziell in ein klassisches Frauenbild gedrängt.
Wer sich von der Autorin zu einem Ausflug in die Bergwelt abholen lässt, wird bei „Andrin“ einige unterhaltsame Szenen entdecken, die Reiselust und Fernweh wecken. Das Rätsel um Voglweh und seine Natur bleibt zwar ungelöst, und man mag sich fragen, ob Susanne es schafft, den Zauber mit in ihr altes Leben zu nehmen. Für alle, die sich eine aufreibende, auch auf künstlerischer Ebene mitreißende Geschichte gefreut haben, fehlen hier leider das die kreativen, überraschenden Momente. Altschäfer hätte sprachlich und inhaltlich mehr wagen und sich weniger plakative Charaktere einfallen lassen dürfen. Wer weiß, vielleicht gelingt ihr das auf einer nächsten Roman-Reise.
Martina Altschäfer: Andrin
Mirabilis 2020
280 Seiten / 20 Euro
Foto: Louisa Schwope