Von Britta Mathéus
In Zeiten nicht enden wollender, im eigenen Sumpf vor sich hindümpelnder TV-Serien sind es viele böse Vorurteile, die der Lektüre eines „fünften Teils“ vorausgehen. Es hat den Beigeschmack einer weiteren Zugabe, wenn einem längst schon die Hände vom Applaudieren schmerzen. Glücklicherweise ist Meyerhoffs neuer Roman ‚Hamster im hinteren Stromgebiet‘ mehr als ein bloßes Anknüpfen an bisherige Erfolgsrezepte, und darüber hinaus hochunterhaltsam.
Hamster im hinteren Stromgebiet unterscheidet sich in einem Punkt ganz fundamental von den vorangegangenen Teilen der Alle Toten fliegen hoch-Serie: Die bisherigen Bände bezogen sich auf weit in der Vergangenheit liegende Lebenserfahrungen, die den Protagonisten, Meyerhoffs literarisches Alter Ego, so nachhaltig in seinem Werdegang prägten, dass sie ihm Erinnerungen wert waren. Es sind Erinnerungen aus Kindheit und junger Erwachsenenzeit, bei denen man gar nicht anders kann, als sie im Nachhinein zu verklären, zu verzerren, verewigt in Geschichten, die so oft gedacht und erzählt wurden, dass sie im Laufe der Jahre perfektioniert, pointiert, vielleicht auch zugunsten der guten Anekdote verbessert wurden.
Der hier besprochene fünfte Teil stellt den Autor nun vor die Herausforderung, die soeben erst Vergangenheit gewordene Gegenwart in eine solch pointierte Erzählung zu fassen – eine Aufgabe, die kaum möglich scheint. Um Geschehenes einzuordnen, braucht es Distanz, die Konturen verstärkt, und Zeit, die Unwichtiges in Vergessenheit geraten lässt. Meyerhoff umgeht diese Schwierigkeit, indem er es gar nicht erst versucht. Statt zu selektieren und ein weiteres assoziatives Best Of der treffendsten Erinnerungen zusammenzustellen, liefert er den umfassenden Bericht einer Woche, die sein Leben grundlegend umkrempelt.
Beim Schulaufgabenmachen mit seiner Tochter erleidet der Einundfünfzigjährige einen Schlaganfall, der ihn von einem Moment auf den nächsten aus dem Alltag hinaus und in den Ausnahmezustand hinein katapultiert. Eine haarsträubend chaotische Krankenwagenfahrt bringt ihn in die altmodisch anmutende, durch Vorhänge unterteilte Stroke Unit des Krankenhauses in einem Wiener Randbezirk, die er sich mit mehr oder weniger unglücklichen Schicksalsgenossen teilt. Um bei Verstand zu bleiben, rezitiert er die Texte seiner Theaterrollen und beobachtet das Kommen und Gehen auf der Station. Es folgen Tage anhaltender Untersuchungen, frustrierender Reha-Einheiten und Ungewissheit.
Für „Jocki“, den Helden der Erzählreihe, ist es eine Art Feuertaufe: Nachdem man ihm all die bisherigen Bücher über dabei zugehört hat, wie er die Lebenserfahrungen beschreibt, die ihn zu der Person machten, die er ist, muss der mitten im Leben stehende Mann nun beweisen, wie er im Hier und Jetzt die Schwierigkeiten bewältigt, die das Leben ihm stellt.
Um die Todesangst, die ihn in den einsamen Nächten zu überrumpeln droht, von sich fernzuhalten, tut er das, was er am besten kann und was seit Jahren das Erfolgsrezept von Meyerhoffs Bücherreihe darstellt: er erzählt. Erzählt sich selbst Geschichten seines Lebens, rekapituliert Zeiten, in denen ihm seine linke Körperhälfte noch gehorchte. Flüchtet sich in Erinnerungen an Reisen mit seinem Bruder und seiner Lebensgefährtin. Reflektiert dabei den Ist-Zustand seines Lebens, die Beziehung zu seinen Kindern, seine Rolle als Vater.
In der Akkumulierung von herrlich tragikomischen Anekdoten, welche die Absurdität menschlichen Handelns und Miteinanders einfangen, offenbart sich, was Meyerhoffs Schreibstil wohl am meisten auszeichnet: die Art, wie er in Ambiguitäten denkt und im scheinbar Normalen das Absurde erkennt, mit einem feinen Gespür für Theatralik, zielsicherer Pointensetzung und einem angenehmen Maß an Selbstironie.
Hamster im hinteren Stromgebiet ist bisher das wohl nachdenklichste Buch Meyerhoffs. Es ist nicht das perfekt pointierte Feuerwerk der Anekdoten, wie Meyerhoffs Kindheitsgeschichte Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war, und auch kein Meisterwerk der Komik, wie seine Ausführungen zum Lebensstil seiner Großeltern in Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke, das man so, wie es geschrieben ist, auf die Theaterbühne bringen könnte. Stattdessen zeigt sich seine Stärke in der unverstellten Darstellung des Kampfes gegen die eigene Unzulänglichkeit. Es brilliert vor allem im humorvollen Zugang zu den schwierigsten Lebensthemen und der unbedingten Entschlossenheit, sich von der Tragik der eigenen Existenz nicht überwältigen zu lassen.
Wie es Meyerhoff gelingt, auch in den düstersten Momenten den Humor nicht zu verlieren, das Komische, das Abstruse zu sehen, wo er ebenso gut in destruktivem Selbstmitleid versinken könnte, ist jedes Mal aufs Neue bemerkenswert. Und es zeigt sich, dass das Erzählen von Geschichten nicht bloß der Unterhaltung dient, sondern eine Bewältigungsstrategie darstellt, die über Angst, Schmerz und Verlust hinwegzutrösten vermag und das Leben in seiner Vergänglichkeit erträglicher macht.
Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet
KiWi 2020
320 Seiten / 24 Euro
Foto: 12019 / pixabay.com