Interview: „Heimat ist kein Ort, aus dem man vertrieben werden kann“

Von Florian Wernicke und Pascal Mathéus

Ein Gespräch mit Iris Wolff über die Unschärfe der Welt und ihren gleichnamigen Roman

Iris Wolffs Roman ‚Die Unschärfe der Welt‘ war einer der Erfolge des letzten Buchjahres. Während die Autorin den Marie Luise Kaschnitz-Preis verliehen bekam, war der Roman gleich für mehrere Preise nominiert. Auch die Kritik hat das Buch äußerst positiv aufgenommen. Mit Aufklappen hat die in Freiburg lebende Schriftstellerin über ihre Poetik, über Preise und die Grenzen der Sprache gesprochen.

Iris Wolff / Foto: Hauschild/Ostkreuz

Aufklappen: Gerne hätten wir uns auch persönlich getroffen und an einem Ort Ihrer Wahl über Die Unschärfe der Welt unterhalten. Wo wären wir dann gewesen, welchen Ort hätten Sie sich für das Interview gewünscht?

Iris Wolff: Ich hätte einen Spaziergang vorgeschlagen, auf den Lorettoberg. Dort kann man sich einen Kaffee im Schloss-Café holen und auf einer der Bänke sitzen mit Blick auf den Kreuzweg.

Die Unschärfe der Welt war ein ziemlicher Erfolg, mit einigen gewichtigen Nominierungen, u.a. für den Deutschen Buchpreis und den Lieblingsbuchpreis der unabhängigen Buchhandlungen. Was bedeuten Ihnen Preise?

Preise sind großartig! Nicht nur, dass sie ein unglaubliches Glücksgefühl verursachen, sondern sie generieren Aufmerksamkeit und sichern einige Monate in finanzieller Hinsicht. Darüber hinaus wird man in eine bestimmte Tradition gestellt, darf sich in die Gesellschaft anderer Preisträgerinnen und Preisträger einreihen. Ich habe mich durch Preise mit Marieluise Fleißer oder Otto Stoessl auseinandergesetzt, lese mich augenblicklich in die Werke Reinhold Schneiders ein – der übrigens auch gern zum Lorettoberg spazierte.

Hatten Sie ein bestimmtes Bauchgefühl, dass dieses Buch erfolgreich werden könnte?

Ich wusste, dass mein vierter Roman weitere Kreise ziehen wird, als meine bisherigen Bücher. Da ich für meine ersten drei Romane einen österreichischen Verlag hatte, galten meine Bücher in Deutschland eher als Geheimtipp. Durch den Wechsel zu Klett-Cotta war klar, dass die Wünsche, die ich bezüglich meiner Literatur hatte, in greifbare Nähe rücken würden: Etwa ein Hörbuch oder Übersetzungen in andere Sprachen. Was nicht kalkulierbar war, sind die Platzierungen für die Literaturpreise des Herbstes 2020. Das war für mich, da ich das noch nie erlebt hatte, mitunter ein anstrengendes Auf und Ab der Gefühle.

In Ihrem Roman erzählen Sie die Geschichte einer Familie und von ineinander verflochtenen Schicksalsbegegnungen deren geografischer Referenzrahmen vornehmlich die liebevoll und bildreich beschriebene Region des Banat ist. Sind Ihre Figuren an einen bestimmten Begriff von Heimat gebunden?

Sie sind allesamt Menschen, die nicht nur an einem bestimmten Ort Zuhause sind, sondern die Fähigkeit besitzen, sich in verschiedenen Dingen zu beheimaten. Sei es in einem bestimmten Augenblick, in den Jahreszeiten, anderen Menschen, in der Musik, in Büchern. Das rührt aus ihren Biographien her, aus der Notwendigkeit, immer wieder neu anzufangen: In neuen gesellschaftlichen Systemen und Zuschreibungen sowie angesichts persönlicher Verluste. Wer da alles auf eine Karte, auf eine Heimat setzt, ist verloren. Heimat ist kein Ort, aus dem man vertrieben werden kann, sondern ein innerer Ort, den zu finden man die Freiheit hat. Das habe ich nicht zuletzt durch die Bücher von Hermann Lenz gelernt.

Die Hauptfigur Samuel kommt im Buch selbst kaum zu Wort, sondern wird fast ausschließlich durch die Augen Ihrer anderen Figuren beschrieben. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Es sind nicht nur die Stoffe, die den Anlass für ein Buch geben, sondern auch die Lust, mit Formen und Strukturen zu experimentieren, neue Erzählweisen auszuprobieren. Alles ist ja schon einmal gesagt worden, Literatur handelt von wenigen existentiellen Themen. Für mich ist die Suche nach neuen, nie dagewesenen Themen weniger relevant – ich vertraue darauf, dass sich meine Sprache verändert, dass ich immer wieder neue Bilder finde für das, was mich umgibt und beschäftigt. Der Anreiz für meinen Lesehunger ist ebenfalls eher die Form und die Sprache. Wie jemand über etwas schreibt, das kann neu sein, kann dazu führen, dass ich die Welt durch die Augen eines anderen sehe. Mir kam im Herbst 2017 die Idee, ein Leben zu erzählen, aber nie aus der Perspektive der Hauptfigur, sondern anhand der Berührungen mit anderen Leben. Ob das gelingen kann, war lange nicht klar. Ich habe von Kapitel zu Kapitel damit gerungen, dass Samuel den Leserinnen und Leser dennoch lebendig vor Augen tritt… denn zu dieser formalen Entscheidung kam noch hinzu, dass er ziemlich schweigsam ist. Es gab zwischendurch Zeiten, in denen ich mich fragte, warum ich es mir selbst so schwer mache.

Die nahezu lyrische Sprache des Buches rahmt, neben der Landschaft, auch die einzelnen Charaktere und scheint sie manchmal – trotz der eigenen Schwächen und Ängste – unangreifbar zu machen. Wovor wollten Sie Ihre Protagonisten beschützen?

Wir erfahren die Welt immer subjektiv. Deswegen stelle ich Erfahrung von Figuren zur Verfügung, und versuche, keine Wahrheiten zu verkünden. In der Unschärfe der Welt sterben Frauen, die nach einer Abtreibung ärztlich nicht behandelt werden, werden Menschen in Kellerräumen verhört, ein junger Mann leidet unter Wahnvorstellungen und begeht Selbstmord. Trotz dieser mitunter heftigen Themen vermeide ich eine erregte Sprache. Ich schreibe die Geschichten aus der Perspektive der Figuren, in einer Sprache, in der es mir, so hoffe ich, gelingt, ihnen Raum zu lassen, sie nicht einzuengen mit Urteilen und Bewertungen. Meiner Ansicht nach krankt unsere Zeit daran, dass es immer um Gewissheiten gehen muss, um Meinungen. Es sind die Uneindeutigkeiten, Ambivalenzen, die mich als Schriftstellerin interessieren. Ein ruhiger, mitunter lyrischer Fluss der Sprache, erlaubt es mir, jene Offenheit zu erzeugen, die unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten zulässt. Eine Offenheit, die jeder Leserin und jedem Leser die Freiheit der Deutung erlaubt. Auch wenn ich die Figuren (er-)finde, weiß ich nicht alles über sie.

Was Literatur zu beschreiben in der Lage ist, zeigt Ihr Buch auf beeindruckende Weise. Aber auch, wo die Grenzen der sprachlichen Bewältigung der Welt liegen: Die Hauptfigur Samuel entflieht der Realität – zumindest zeitweise –, indem er sich in die Welt der Bücher zurückzieht. Sein Freund und Gefährte Oz hingegen bleibt mit den Folgen seiner Entscheidungen und, trotz einiger Anstrengungen, mit der Realität unerfüllter Träume konfrontiert. Später entschließt er sich zum Suizid. Findet Samuel in der Literatur eine Art Heimat, die Oz nicht zugänglich war?    

Für Samuel ist die Welt der Bücher ein Orientierungssystem, das es ihm erlaubt, sich an der Welt auszurichten. Er entdeckt darin neue Worte, die er wie Fundstücke behandelt, und schenkt seinen Freunden ihre Spitznamen. So erhält auch Oz seinen Namen, eine Referenz auf Der Zauberer von Oz. Samuel sagt ihm, dass jeder etwas anderes in einem sieht, dies aber nicht bedeutet, das man so ist. Oz steht stellvertretend für all jene Menschen, die an einem gewaltsamen System irreversibel Schaden nehmen. Florentine, Hannes und ihr Sohn Samuel schaffen es, auch in einem totalitären System ein glückliches, einigermaßen selbstbestimmtes Leben zu führen. Aber es gab viele andere, die durch Einschüchterung, Folter, Einkerkerung einen so großen Schaden davon getragen haben, dass ihnen ein Leben nicht mehr gelang. Es mag seltsam klingen, aber ich habe bis zuletzt gehofft, dass es Oz gelingt. Sein Tod kam für mich überraschend, erst in der Szene, als in einer Kneipe die Schuhspitzen eines fremden Mannes auf ihn zeigen, war klar, worauf alles hinausläuft. Meine Geschichten strukturieren sich stark über Symbole, und als die blank polierten Schuhe wieder auftauchten, die Oz am Schwarzen Meer an einem Geheimdienst-Mitarbeiters bemerkt, wurde deutlich, dass es keine Hoffnung für ihn gibt. Oz gelang vielleicht letztlich keine Beheimatung in sich selbst, auch ein Leben in Freiheit, an der Seite seines Freundes, konnte ihn nicht retten.

Sie beschreiben in ihrem Buch, wie Samuel nach vielen Jahren zurück ins Banat kommt, auf seine Familie und den Ort trifft, an dem er aufgewachsen ist. Auch Sie haben einen Teil Ihres Lebens im Banat verbracht. Was verbindet Sie heute noch mit dieser Region und den Menschen?

Immer, wenn ich nach Siebenbürgen oder ins Banat reise, merke ich, dass ein Teil von mir immer noch dort ist. Etwas an dem Klang der Sprachen, dem Licht, der Landschaft rührt mich an. Es stellt sich eine gewisse Traurigkeit ein, und ich fürchte, das wird immer so bleiben. Nicht nur meine Familie, eine Viertelmillion Menschen aus Siebenbürgen und dem Banat haben ihre Heimat verloren. Die Siedlungsgeschichte der Deutschen im heutigen Rumänien reicht über neunhundert Jahre zurück, und ist innerhalb von einer Generation unwiderruflich zu Ende gegangen. Die Spuren dieser jahrhundertealten Geschichte sind noch zu sehen, die Städte, Kirchenburgen, Häuser – aber die Menschen sind fort. Durch diesen Verlust meiner ersten Heimat gelingt es mir, überall schnell Zuhause zu sein, aber ich fühle mich doch auch auf eine gewisse Weise nicht zugehörig. Das war, besonders als Kind, nicht leicht. Inzwischen kann ich jedoch die Freiheit und die Möglichkeiten sehen, die aus dieser Erfahrung resultieren. Ich hätte nie ein Buch geschrieben, wenn es diese doppelte Verwurzelung nicht gäbe, und damit einhergehend die Fähigkeit, mich in der Luft zu beheimaten – um ein Bild Hilde Domins zu verwenden. Ich fühle mich in Ideen, Erinnerungen und Geschichten Zuhause.

„Sprache konnte nicht mehr sein als ein Anlauf zum Sprung“, heißt es an einer Stelle des Romans. Was kommt für Sie nach dem Sprung?

Das Einlassen auf die Widersprüchlichkeit, Offenheit und Schönheit der Erfahrung.

Foto: jplenio / pixabay.com

6 Kommentare zu „Interview: „Heimat ist kein Ort, aus dem man vertrieben werden kann“

  1. Den Titelsatz hatte ich schon vor Stunden bei einem flüchtigen Blick auf den „Reader“ gelesen, und mich über mich selbst gewundert, wie prompt und heftig ich ihn ablehnte. Jetzt, nach dem Lesen des Interviews, verstehe ich mich selbst wieder. Frau Wolff strotzt von einer Selbstüberzeugung die wütend macht. Aber so gewinnt man Preise.

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    1. Danke für die Rückmeldung. Ich kann den Heimatbegriff von Frau Wolff dagegen gut nachvollziehen. Dass es nicht jedem Menschen gegeben ist, die verlorene Heimat durch einen inneren Rückbezug wieder zu erlangen, ist übrigens auch eines der Themen dieses besonderen und in keiner Weise auf Marktgängigkeit oder bestimmte Preise hin geschriebenen Romans.

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      1. Der Begriff der geistigen Heimat ist ja nicht neu. Trotzdem kann man m.E. nicht sagen, Heimat sei kein Ort, ohne die Menschen zu verletzten, die den Ort „Heimat“ durch Flucht oder Vertreibung verloren haben.

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      2. Hallo und besten Dank für Ihren Beitrag. Wie sie treffend bemerken, ist die Festlegung auf einen „Heimat“-Begriff – ob nun geistiger oder territorialer Ausprägung – eine komplizierte Angelegenheit. Das Problem liegt sicher auch in der nie zu treffenden Vollständigkeit solcher Unterfangen.

        In dem für den Titel gewählten Zitat spiegeln sich letztlich zwei Ebenen wider: Einmal die Bezugnahme auf den Roman und seine Figuren, die als Träger bestimter Facetten einer im Buch umschriebenen Idee von Heimat fungieren. Andererseits spielen sicher auch die biografischen Erfahrungen der Autorin eine Rolle bei der Entfaltung dieser Deutung von Heimat.

        In dieser Form wird auch kein Anspruch auf ein umfassendes oder gar vollständiges Verständnis von Heimat gelegt. Der Titel greift die Perspektiven des Romans und der Autorin auf und lässt, wie unsere Diskussion zeigt, zugleich den nötigen Raum für andere Heimaten.

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  2. Pingback: Aufklappen.com

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