Von Pascal Mathéus
Überraschende und gleichzeitig etwas großspurige Auftritte bezeichnet man für gewöhnlich mit dem Ausdruck „Paukenschlag“. Das würde dem grandiosen, völlig übergeschnappten Debütroman von Leander Fischer jedoch nicht gerecht werden. Zu grazil ist ‚Die Forelle‘ gearbeitet, zu filigran ist das Besteck, mit dem der 1992 im oberösterreichischen Vöcklabruck geborenen Schriftsteller scheinbar nur das Fliegenfischen, in Wahrheit aber die ganze Welt auseinandernimmt. Ein besonderes, aus der Zeit gefallenes Buch.
„Machet es ganz und gar, oder nicht, sonst würdigt ihr die Forelle nicht.“ Dieses selbstgegebene Motto hat Leander Fischer mehr als beherzigt. Wie soll man aber als Rezensent an dieser Aufgabe nicht scheitern angesichts eines beinahe 800 Seiten starken Debüts, das so sparsam mit Absätzen umgeht und auf den ersten Blick wie ein bedrohlicher, monolithischer Textblock wirkt?
Und in der Tat beansprucht dieser Roman ein erhebliches Maß an Konzentration und Geduld, das man seinem Alltag erst einmal abtrotzen muss. Wem es gelingt, den belohnt Die Forelle mit einem rauschhaften Leseerlebnis. Die litaneihaften Beschreibungs-, Assoziations- und Grantelorgien des in der Provinz des Salzkammergutes gestrandeten Musiklehrers und Fliegenfischer-Lehrlings Siegi, dessen Erzählstimme sich Fischer geliehen hat, gleichen dann einem unwiderstehlichen Köder, dem sich der Leser mit offenem Mund trotz aller Bedenken hingibt. Außerhalb jenes Rauschzustandes gelingt es aber vielleicht doch, ein paar kühle Gedanken zu diesem beeindruckenden Buch zu sagen:
So wie Siegi die ersten Versuche, eine Goldkopfnymphe zu binden, nicht vollends gelingen, ist auch das Debüt seines Erfinders nicht tadellos. Wirklich anstrengend ist zum Beispiel der ungezügelte Hang zu assoziativen Sprachspielen. Von Jochen Rindt kommt der Text schnell zu Rindviechern, von Kurt Waldheim zum Waldsterben. Oder es ist von der „Schicky-Micky-Mäuschen-Kleinstadt“ die Rede. In ihrer Plattheit drückt sich der stark ausgeprägte Zynismus des Erzählers aus. Überdies hält sich der durch die Spielereien erbrachte Erkenntnisgewinn aber in Grenzen und verkommt über mehrere hundert Seiten zu einer nervigen Marotte.
Auch sonst sitzt nicht jedes Sprachbild. Das „hodenkrebskalte Erregungsgewässer“ begegnet einem beispielsweise gleich am Anfang. Es zeugt eher von der unbedingten Ambition des Erzählers, der so dringend ein Virtuose sein will, und darüber mitunter Kapriolen schlägt.
Aber wahrscheinlich wäre es ein Missverständnis, sich dem Erzählanlass mit den Mitteln der Psychologie zu nähern. Schließlich bewegt sich Leander Fischer mit seinem Debüt auf den Spuren einer literarischen Tradition, die die Konzentration auf Figuren und ihre Motivationen überwinden will – dazu gleich mehr. Die Detailversessenheit wird vielmehr als Prinzip vorgeführt, für das es außerhalb des unbedingten Wunsches, Kunst zu produzieren, keine weitere Erklärung mehr braucht.
So wird jede einzelne Episode des Romans bis ins letzte Ästchen des Denk- und Wahrnehmbaren ausgeführt. Als etwa im Dorf Gerüchte aufkommen, der Fleischer Kurti würde sein Rindfleisch aus Argentinien importieren, führt er der wartenden Menge vor seiner Metzgerei die feierliche Schlachtung eines Stieres vor. Allein anderthalb Seiten verwendet Leander Fischer zur Beschreibung der Fliegen, die sich auf den letzten Haufen des Rindviechs stürzen, und ergeht sich dabei in der Schilderung ihrer Farben und ihres Formationsflugs. Natürlich erzeugt dies wiederum Resonanz zu Siegis künstlichen Fliegen vom Bindestock. Eine nächste Assoziationsflut kündigt sich an.
„Die Tricks müssen besser, immer ausgefallener werden. Extravaganz, nicht aus Dekadenz, sondern als einziges Rezept, um überhaupt noch zu fangen.“ Leander Fischer tritt in seinem Debüt zu nichts weniger an als zur Rettung der Literatur. So viel Übermut erfrischt gerade dann, wenn man mit der Zeitdiagnose des Autors einverstanden ist. Sie geht davon aus, wie gar nicht selbstverständlich der Anspruch von Literatur heute erscheint, etwas Substantielles zur Erfassung der Welt beitragen zu können.
Wie so häufig in solchen Notlagen besinnt sich die Literatur auf ihre eigene Tradition. Auf Fischers oben angesprochenen Anknüpfungsversuch hat Michael Schmitt in seiner Kritik im Deutschlandfunk hingewiesen. Theorie und Praxis des nouveau roman liegen demnach Fischers Ansatz von Literatur zu Grunde. Um den Scheinrealismus des psychologischen Romans des 19. und 20. Jahrhunderts zu dekonstruieren, setzten die Adepten dieser Schule im Frankreich der 1950er Jahre ihre experimentelle, mitunter sperrige Prosa entgegen. Jene durch die Verleihung des Nobelpreises an Claude Simon 1985 geadelte literarische Bewegung hat nicht ohne Grund ihre Anhänger und ihrer Gegner. Leander Fischer hat sie in Der Forelle in die Gegenwart überführt. Mit Vehemenz und Ausdruckskraft hat er den vorgegebenen Formen sein eigenes Gepräge verliehen.
Wie seine Vorgänger setzt Fischer bei der Entfremdung des modernen Menschen an, für die er mit dem Fliegenfischen ein starkes Bild gefunden hat. In einem Roman von ‚echten Menschen‘ oder ‚der Wirklichkeit‘ erzählen zu wollen, ist dabei genauso zum Scheitern verurteilt, wie die Renaturierung unserer überfischten Gewässer durch das Aussetzen von Zuchttieren. „Die Tiere kennen sich ja inzwischen genauso schlecht aus wie wir“, schreibt Fischer. Nicht weniger, sondern noch mehr Kunst lautet deshalb seine Antwort. In diesem Sinne ist Die Forelle tatsächlich l’art pour l’art: Sie ist Kunst, um der Rettung der Kunst willen.
Eher epigonal wirkt dagegen die Österreich-Kritik, in der die üblichen Topoi (Provinzialität, Ausländerfeindlichkeit, ungeklärtes Verhältnis zur Nazizeit) verhandelt werden. Allerdings versteht es Fischer auch hierbei durchaus mit manch ätzender Sentenz eine neue, noch ungehörte Saite zum Klingen zu bringen, wenn er etwa den Wunsch artikulieren lässt, dass „unserem führungsbegnadeten, gottgelobten und für das Idealschöne beneideten Kulturvolk in der Alpenmark nicht die Genies und Geistesgrößen ausgingen“. Einbildungskraft und Stilbewusstsein glänzen auf jeder Seite. Es reizt sehr, sich Fischers Talent schon jetzt in einer nächsten, vielleicht ganz anders konzipierten literarischen Arbeit vorzustellen.
„[E]ine Zumutung“ nannte Rainer Moritz das Buch und meinte dies durchaus respektvoll. Ja, Leander Fischer mutet seinen Lesern einiges zu. Wie viel sie aus seinen überreichen Fischgründen schöpfen, hängt wohl nicht nur vom persönlichen Geschmack, sondern auch von der Bereitschaft ab, sich auf seine äußerst ungewöhnliche Erzählweise einzulassen.
Leander Fischer: Die Forelle
Wallstein 2020
782 Seiten / 28 Euro
Foto: TJFREE / pixabay.com
Eine schöne Kritik! Dieses Buch ist ja wirklich eine Zumutung, nicht alles ist gelungen, viele Ansätze verlieren sich in den Abschweifungen, mich hat der Text ebenso manches Mal verloren. Und doch ist dieses Wagnis von Leander Fischer in meinen Augen gelungen, wagt er doch etwas und bietet ein Leseerlebnis, das man so heute kaum mehr findet. Ich bin gespannt, ob das Buch auch außerhalb der Literaturkritik noch ein Echo findet …
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