Hello darkness, my old friend – Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?

Von Britta Mathéus 

Till Raethers neues Buch handelt „Vom Liegenbleiben und Schämen“. Es ist das ganz persönliche Liegenbleiben, über das er schreibt, eine detaillierte Darstellung des eigenen Leidenswegs auf der Suche nach einem angemessenen Umgang mit seiner Depression. Er reiht sich damit ein in die Riege von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die es sich zum Ziel gemacht haben, Depressionen aus dem Tabu hinaus und mitten in die Gesellschaft zu holen. Das ist lobenswert, aber in manch verkürzender Tendenz nicht unproblematisch.

Die im Titel aufgeworfene Frage scheint schnell geklärt: Till Raether leidet unter einer diagnostizierten Depression. Sein Buch liest sich wie ein geradezu prototypischer Krankheitsverlauf, wie er so oder so ähnlich tausendfach in den Anamnesebögen der psychotherapeutischen Praxen dieses Landes vermerkt sein dürfte. Dabei schildert er sehr eindrücklich, wie sich seine depressiven Phasen auf sämtliche Bereiche seines Lebens auswirken, wie seine Gedanken und Verhaltensmuster von ihr geprägt sind. Es ist eine sehr ehrliche und persönliche Schilderung eines jahrzehntelangen Kampfes gegen sich selbst, in der sich viele wiederfinden werden, und die hoffentlich so manchem Leicht- bis Mitteldepressiven zeigen wird, dass es Möglichkeiten der Besserung gibt, wenn man sich die Chance gibt, sie zu bewältigen. Man kann also sagen, dass das Buch sein Ziel erreicht – Aufklärung zu schaffen, Licht ins Dunkel zu bringen, und an seine heimlichen Leidensgenossen zu appellieren: Lasst euch helfen.

Das dringende Bedürfnis Betroffener, Depressionen als Erkrankung zu definieren – wie jede körperliche Symptomatik auch – und für dementsprechend behandlungsbedürftig zu erklären, ist sehr verständlich und absolut berechtigt. Naheliegend ist dann der Schluss, der sich auf der Basis von Raethers Buchtitel fällen lässt – man ist entweder krank oder gesund, es handelt sich entweder um eine Depression oder „noch“ um das Leben.

Doch so ehrenwert die Beweggründe hinter dieser Haltung auch sind, so gelingt es ihr nicht, das Phänomen Depression im Kern zu erfassen. Ja, sie birgt sogar Gefahren für die Debatte und unser Verständnis vom zugrundeliegenden Krankheitsbild. Denn eine Depression ist (mit Ausnahme jener Fälle, die sekundär durch zugrundeliegende körperliche Erkrankungen ausgelöst werden) nicht eine Krankheit wie jede andere auch, wie der Psychoanalytiker Peter Schneider kürzlich in einem Interview mit Psychologie Heute sehr anschaulich machte: „Ein Depressiver ist depressiv und hat nicht eine Depression wie einen Virus oder einen Nierenstein.“ Die Vorstellung, dass man plötzlich an Depressionen erkrankt und diese dann ärgerlicherweise nicht wieder los wird, wie einen chronischen Schnupfen, führt dazu, dass sie zu einem Fremdkörper erklärt wird, den es zu bekämpfen gilt.

Psychiatrische Diagnosen sind Beschreibungen von Zuständen, ohne dass eine eindeutige Ursache benannt werden könnte. Ihre genaue Auslegung unterliegt in hohem Maße der sozialen Aushandlung, sie sind veränderbar und ständig überarbeitungsbedürftig. Dementsprechend zufällig sind auch die Cut-Off-Werte, nach denen entschieden wird, ob ein Zustand unter die Klassifikation „Depression“ fällt oder nicht. Sie liefern keine Erklärung, sondern markieren pragmatisch, ab wann die Krankenkasse zahlt.

Die Diagnose zu erhalten, ändert per se nichts am eigenen Zustand. Wenn man den Aussagewert einer solchen Einordnung überschätzt, läuft man Gefahr, daraus Fehlschlüsse zu ziehen. Die Depression ist nicht die Ursache, sondern die Art und Weise des eigenen Umgangs mit sich und der Welt, dem Leben. Um Peter Schneider erneut zu Wort kommen zu lassen: „Psychiatrische Diagnosen „erschaffen“ die Wirklichkeit, die sie gleichzeitig beschreiben.“

Für viele Betroffene ist es eine Erleichterung, dem Kind einen Namen zu geben, sich endlich unwohl fühlen zu dürfen. Doch allein diese Notwendigkeit der Rechtfertigung – dass eine handfeste Diagnose benötigt wird, um sich selbst einzugestehen, dass die eigenen Gefühle in Ordnung und existenzberechtigt sind –, ist bereits Symptom der Depression.

Ähnlich ist die doch recht schwarz-weiße Weltansicht, wie Till Raether sie in seinem Buch beschreibt, zu deuten: allen anderen geht es gut, nur mir geht es so schlecht. Warum kann es mir nicht einfach gut gehen? Warum kann ich nicht einfach „Spaß […] haben wie ein normaler Mensch“? Eine solch unterkomplexe Idee vom Verhältnis zwischen gut und schlecht, krank und gesund ist einerseits auf depressive Tendenzen zurückzuführen und hilft gleichzeitig bei ihrer Aufrechterhaltung. So funktioniert Depression.

Man hätte sich gewünscht, dieses komplexe Zusammenspiel zwischen eigenen depressiven Tendenzen und „dem Leben“ würde im Buch so ausgiebig reflektiert, wie der Titel es hoffen lässt. Während Raether an vielen Stellen die alten Muster zu brechen und umzudeuten versucht (etwa in seiner Auslegung der Worte Rosmarie Welter-Enderlins im Interview mit Aufklappen), bleibt seine allgemeine Sicht auf die Depression davon unberührt. Der Hauch von Gesellschaftskritik, den Raether punktuell aufgreift – „[…] das System lebt davon, dass Menschen ignorieren, was gut für sie wäre und was ihnen schadet“ – verharrt auf Allgemeinplätzen.

Man muss das vorliegende Buch daher mit Vorsicht als das lesen, was es ist – die Schilderung eines Depressiven. Es ist ein weiterer persönlicher Erfahrungsbericht, der gut zu lesen ist und Betroffenen Inspiration bieten kann, sich selbst auf die eigene Reise der Besserung zu begeben, der es jedoch dabei belässt, an der Oberfläche des Themas zu kratzen.

Jede einzelne depressive Symptomatik ist ein kompliziertes Zusammenspiel aus äußeren Bedingungen und individuellen Faktoren, welche selbst erneut wieder gesellschaftlich und familiär geprägt sind. Jede dieser Symptomatiken ist aufgrund des bestehenden Leidensdrucks psychotherapeutisch behandlungsbedürftig. Doch es wäre viel zu einfach, wenn wir es dabei beließen. Denn indem wir Depressionen zu einer rein persönlichen Angelegenheit machen, schließen wir die Augen davor, dass sie eigentlich eine individuelle Reaktion auf zwischenmenschliche und somit auch auf gesellschaftliche Prädispositionen ist.

Es ist auch dem ungebremsten Höhenflug der Psychologie und der Durchpsychologisierung unseres eigenen Verhaltens geschuldet, dass wir nur auf unsere eigenen Probleme gucken und die Ursache für diese Probleme in uns selbst verorten. Diese Praxis ist letztlich auch wieder Resultat des Verständnisses von Depression als einer Krankheit, die sich in uns eingenistet hat und von dort schaltet und waltet.

Natürlich ist es richtig und wichtig, dass sich Menschen, die unter Depressionen leiden, Hilfe suchen und sich individuell behandeln lassen. Dementsprechend gut und hilfreich ist es, wenn sich Menschen zu Wort melden, denen daran gelegen ist, anderen die Hemmungen zu nehmen. Jedoch müssen wir uns darüber bewusst sein, dass wir damit einzelne Flammen löschen, ohne den Brandherd zu taxieren.

Wieder einmal, wie bei fast jedem heiß diskutierten Thema, bleibt festzustellen: Es ist leider alles nicht so einfach, wie wir es gerne hätten. Die Realität zeigt sich letztlich in allen Schattierungen des Graubereichs und in all ihrer Ambivalenz, die durch kein Diagnosemanual der Welt angemessen abgebildet werden könnte.

Ist es also die Depression oder ist es noch das Leben?
Es ist beides. Es ist Depression. Aber es ist auch das Leben.

* * *


Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?
Rowohlt Polaris 2021
128 Seiten / 14 Euro

Kaufen im Shop der

#supportyourlocalbookstore

Die Rezension erscheint gleichzeitig auf dem Blog von Britta Mathéus.

Foto: Free-Photos / pixabay.com

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