Von Pascal Mathéus
Der neue Coming-of-Age-Roman von Benedict Wells um vier High School Kids aus einer Kleinstadt in Missouri ist derart mit Klischees und Peinlichkeiten vollgestopft, dass man eigentlich schon nach wenigen Seiten genug davon hat. Doch dann liest man weiter und kann nur noch staunen. Denn hier sitzt jedes Klischee, jede Peinlichkeit ist genau an die richtige Stelle gesetzt. Selten gab es einen Roman über das Erwachsenwerden mit glaubwürdigeren und lebendigeren Figuren.
Was soll man von einem Roman halten, in dem Sätze vorkommen wie: „Aber das beste Geheimnis war, wie sich Kristies Haar im Fahrtwind anfühlte.“ Oder ausgetretene Sprachbilder bemüht werden wie: „mein Herz war noch immer ein Drumset, auf das jemand wie verrückt einhämmerte“. Der Fall scheint klar. Das ist Trash, kann weg, gar kein Gegenstand einer an Kunst orientierten Literaturkritik. Aber Moment. Warum liest man Hard Land trotzdem so gerne? Ja, warum wird der Roman besser, je länger er geht und wie zum Donnerwetter schafft es der Autor, dass seine Figuren so unglaublich echt wirken?
Umso mehr könnte man sich darüber wundern, als Benedict Wells für seinen fünften Roman ein Setting gewählt hat, in dem er sich gar nicht auskennen kann. Irgendwo in Missouri liegt die erfundene Kleinstadt Grady, in der sein Held Sam aufwächst. Zu den üblichen Problemen des Coming of Age treten bei ihm noch ein paar miese Umstände hinzu.
Wie kommt Wells dazu, sich die amerikanische Provinz als Schauplatz zu wählen? Muss er daran nicht scheitern, weil er gar nicht wissen kann, wie sich das anfühlt, seine Jugend in Missouri zu verbringen? Es sei denn, er bezöge sein Wissen aus den dutzenden Filmen und Büchern, die an ähnlich durchschnittlichen amerikanischen High Schools vom Erwachsenwerden erzählen. Tatsächlich ist es gerade der entscheidende Trick von Hard Land, sich auf sekundäres Material abzustützen.
Die Konstellation ist jedenfalls bestimmt keine originelle Erfindung von Wells. Sofort kommen einem der Fänger im Roggen und andere Romane und Filme aus dem Coming-of-Age-Genre in den Sinn, bei denen sich Wells zum Teil sehr freimütig bedient hat. Allerdings versucht der Roman gar nicht, diese Beziehungen zu verschleiern. Im Gegenteil: Die Vorbilder werden mit unter selbst im Text genannt und es lassen sich ironische Anspielungen auf das Klauen von literarischen Versatzstücken finden. Sie sind eben kein Ausrutscher, sondern folgen einem sehr genau kalkulierten Plan.
Der Roman scheint der Einsicht zu folgen, dass Jugend selbst ein einziges Klischee ist – und trotzdem ihr absolut unhintergehbares Recht hat. Die Bilder, Filmzitate und Lyrics, die für die Beschreibung dieser Lebensphase zur Verfügung stehen, sind ohne Zahl. Sie dominieren die Erfahrung von Jugend auch deshalb so sehr, weil sich Jugendliche selbst in ihrer Orientierungslosigkeit an ihnen festhalten. Zudem erleben Jugendliche alles das, was uns wie ein unerträglich peinliches Klischee vorkommt, zum ersten Mal. Und dann ist es alles andere als klischiert, sondern so einzigartig, wie etwas nur sein kann. Insofern passt der Erzählton aufs Genaueste zu der Geschichte, die Benedict Wells in Hard Land durch seinen Helden Sam erzählen lässt. Schon die Einsicht in diese perfekte Harmonie lässt statt lauter kitschiger Einzelsätze ein Ganzes erkennen, das selbst alles andere als kitschig, sondern wahrhaftig und berührend ist.
Nur durch die exakte Wiedergabe der Gedanken- und Gefühlswelten von Jugendlichen gelingt es Wells, glaubwürdige jugendliche Figuren zu schaffen. Das Gequatsche der Jugend erzeugt dabei einen unverwechselbaren, atmosphärischen Sound. Es erfüllt eine ähnliche Funktion wie der Gangster-Trashtalk in Scorseses Mafiafilmen, der für sich genommen oft auch einfach nur banal ist. Im System der Gangsterwelt erfüllt diese Sprache aber eine wichtige Funktion, die man mit der Zeit beim Zusehen begreift und damit auch das Milieu durchblickt.
Auf ganz ähnliche Weise gelingt Wells die so schwierige Vermittlung zwischen seinen jugendlichen Helden und seinen erwachsenen Lesern. An einer Stelle heißt es über ein Gespräch zwischen seinen Figuren: „Und es wird auch wahr sein, wenn wir als Erwachsene das Ganze als jugendliches Gerede abtun.“ Dieser Differenz ist der Roman die ganze Zeit auf der Spur. Benedict Wells ist der Wahrheit der Jugend durch seine perfekte Mimikry erstaunlich nahegekommen.
Hinzu kommt die Lebendigkeit seiner Figuren. Sein Blick auf sein Romanpersonal zeichnet sich dadurch aus, wie viel Aufmerksamkeit er für Details, Eigenarten und Spleens aufbringt – natürlich wird nie einfach nur aufgezählt, sondern in der Erzählung selbst schälen sich die Charaktere heraus. Etwa Cameron, der ständig wichtigtuerische, alberne Gedankenexperimente anstellt und damit seinen Freunden auf die Nerven geht. Auf diese Weise entstehen sehr eigenwillige Figuren, die im Gedächtnis bleiben.
Nur selten verlässt Wells die Perspektive der Jugendlichen und lässt die Erwachsenen zu Wort kommen. Indem das Buch an diesen Stellen andere Töne anklingen lässt, wird die Differenz zur jugendlichen Lebenswelt umso deutlicher. Einmal findet etwa Sams Vater findet eine sehr schöne, paradoxe Weisheit zum Umgang mit dem Tod der Mutter. Hier zeigt sich: Wells könnte anders, wenn er wollte. Aber er will nicht. Und das ist für dieses Buch auch genau gut so.
Von einem eindrücklichen Leseerlebnis lässt man sich zu leichtsinnigen Prognosen hinreißen: Hard Land gehört in einer Reihe mit Tschick zu den großen deutschsprachigen Jugendromanen der Gegenwart. Ein Buch, das bleiben wird.
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Benedict Wells: Hard Land
Diogenes 2021
352 Seiten / 24 Euro
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Foto: mikesturgeon / pixabay.com