Bahnreise durch Feindesland – Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

Von Matti Borchert

Wie verliert man seinen Verstand? Etwa dann, wenn sich das Wertesystem über Nacht radikal auflöst, innerhalb dessen man sich zuvor begriffen, an dem man sich noch gestern ausgerichtet hat; wenn aus allem Vertrauten und Hergekommenen plötzlich „Feindesland“ wird.

Ob in solchen Phasen des Bruchs – wie etwa in Nazideutschland – Werte und Normen überhaupt noch Handlungsorientierung geben können und ob nicht eigentlich der Orientierungslose der einzig Verständige ist, verhandelt der im letzten Jahr veröffentlichte Roman Der Reisende. Otto Silbermann, Berliner Kaufmann aus jüdisch-protestantischer Familie, versucht nach den Erschütterungen der Reichspogromnacht, im Selbstverständnis deutschen Bürgertums seine Existenz zu retten. Doch alter Status und vormalige Beziehungen zählen nichts mehr in der neuen Ordnung.

„Ich kann und will nicht aus meiner Haut heraus. Ich bin als Bürger geboren und werde als Bürger sterben. Vielleicht als ein flüchtender, doch als ein Bürger, das ist gewiss.“

Sein Sohn hat das Land rechtzeitig nach Paris verlassen können. Seine protestantische Frau ist von ihm getrennt worden, als Männer der Gestapo seine Berliner Wohnung stürmten. Sein Geschäftspartner Becker ergibt sich leicht den neuen Handlungsmöglichkeiten der Zeit und wendet sich von ihm ab. Silbermann ist nun ohne Familie, ohne Vertraute. Angesichts der Gefahren für sein Leben beginnt er mithilfe seines verbliebenen Geldes, mit dem Zug davon zu fahren: von Berlin nach Aachen, von dort nach Dortmund und wieder zurück, von Mönchengladbach nach Berlin, von Berlin nach Küstrin, und zurück; von dort nach Dresden, dann wieder nach Berlin. Otto Silbermann flieht mit dem Zug, reisend durch das eigene Land. Einmal unternimmt er zwar den Versuch, nachts durch ein Waldstück über die belgische Grenze zu kommen, doch schicken ihn Grenzsoldaten schleunig zurück.

Richtig erscheint ihm die Flucht ins Ausland von vornherein nicht. Otto ist in dem Glauben geblieben, dass ihm nichts zustoßen werde; schließlich sei er anerkannt, gut situiert, deutsch; er habe für das Vaterland sogar an der Front gekämpft. Dieser Glaube an die Regeln seines Staates wird bis zum Untergang des Protagonisten fortgeschrieben: Otto ist deutscher Bürger, er glaubt an Ordnung und Gesetz, er glaubt an sein Recht, darüber hinaus an die Dominanz des Geldes. Er ist erklärter Kapitalist, von dem man zwischen gängigen rassistischen Ressentiments der Figuren erfährt, dass er sich in Zeiten der Inflation und durch Steuerbetrügereien selbst hat bereichern können. Die Nazidiktatur kommt ihm in die Quere, wo er doch eigentlich nur gerne weiter seinen Geschäften nachgehen würde. Noch in höchster Gefahr für sein Leben will er nicht auf sein Geld verzichten und vertraut auf die Hilfe des vermeintlichen Rechtsstaates.

Auf seinen Reisen verfolgt der Leser die zunehmende Wandlung der Hauptfigur: Nach wiederkehrendem Muster trifft er an den Bahnhöfen oder in den Zugwagons auf verschiedene sinnbildhafte Charaktere der Zeit. Die Fassaden der Figuren fallen allzu schnell und entblößen so Zwangslagen der einen und neu gewonnene Handlungsmöglichkeiten der anderen; legen die Korrosionen bisheriger Orientierungsrahmen offen. Anfangs beherrscht, führen diese Begegnungen umso rascher zu Silbermanns Kontrollverlust. Auch wenn er sie ausblenden möchte, die Bedrohung wird zunehmend real. Gefährten könnte er finden, doch mehrmals verlässt er die Gesellschaft von Glaubensangehörigen in der Furcht, ihre ‚körperlichen Merkmale‘ könnten ihn „kompromittieren“. Isolation und Realitätsverweigerung verdunkeln den Verstand Silbermanns und beenden schließlich seinen Versuch, sich der Gefahren zu erwehren. So erschreckend die Ausweglosigkeit des Reisenden in Nazideutschland ist, so betroffen macht seine Borniertheit.

Das Romanmanuskript ist nun 80 Jahre nach seiner Niederschrift vom Verleger Peter Graf bearbeitet und im letzten Jahr erstmals in seiner Originalsprache herausgegeben worden. Der zu einer jüdisch-christlichen Familie gehörende Boschwitz hat im Exil einen sprachlich pointierten, gedanklich scharfen, ins Mark fahrenden Text verfasst, der weder Opferduktus noch Happy-End-Klischees nötig hat. Ein zurückhaltender Erzähler überlässt vorwiegend den Figuren das Feld, deren Gespräche und Handlungen eine plastische Skizze der Zeit erzeugen. In dieser Biopsie gesellschaftlicher und menschlicher Brüche liegt die Kunst des Romans. Boschwitz ist ein Buch gelungen, das nachträglich einen Platz unter den Werken herausragender deutscher Exilliteratur einnehmen muss.

Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende
Klett-Cotta 2019
303 Seiten / 20 Euro

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